Will
Keiner achtet auf mich, als ich das Zelt betrete. Das letzte Dutzend Tracker, dem noch kein Blut abgenommen wurde, steht gedrängt um den lächerlich kleinen, aber umso lauter brummenden Heizofen. Einige von ihnen warten gelangweilt darauf, endlich an die Reihe zu kommen. Doch die meisten Tracker sind in Gespräche untereinander vertieft. Ich lasse meinen Blick durch das Zelt gleiten, bis ich einige Blutproben auf einem Schreibtisch am hinteren Zeltende entdecke. Ich umfasse das kleine Plastikröhrchen in meiner Overalltasche fester und schlängle mich durch die Tracker zu dem Schreibtisch hindurch. Im Vorbeigehen nicken mir einige von ihnen freundlich zu. Kyle, Collin, Rita. Ich nicke zurück und sie wenden sich wieder ihrem Gesprächspartner oder dem dampfenden Becher Instantkaffe zu. Keiner schöpft irgendeinen Verdacht.
"Hey!" Ich zucke zusammen. Eine Hand legt sich fest um meine Schulter und dreht mich nach hinten. Paul steht grinsend vor mir. "Was?", knurre ich. Ich klinge genervt, nicht panisch. Gut. Paul mustert mich mit schiefen Blick von oben bis unten und sein Grinsen erblasst augenblicklich. "Mann, du siehst echt beschissen aus. Geht's dir gut?" Ich muss ruhig bleiben, ganz normal wirken. Also ziehe eine Hand aus der Tasche und zeige ihm den Mittelfinger. "Wie neu geboren." Paul sieht kein bisschen überzeugt aus. Meine Hände beginnen zu zittern und ich vergrabe sie tief in den Taschen meines Overalls. "Im Ernst Will, fehlt dir was?" "Hab ne lange Tour hinter mir. Was mir fehlt ist Schlaf." Ich bemühe mich gelassen zu klingen. "Dann leg dich mal lieber aufs Ohr. Siehst ziemlich erschöpft aus", sagt Paul und boxt mir freundschaftlich gegen den Arm. "Werde ich." Ein Sanitäter mit erstaunlich großen Ohren ruft zu meiner großen Erleichterung Pauls Namen auf. Er zwinkert mir ein letztes Mal zu und geht dann.
Es ist so einfach wie heute morgen, als ich meine eigene Blutprobe habe mitgehen lassen. Der Sanitäter hat sie zu den anderen in einen Pappbecher gestellt und sich dann dem nächsten Tracker zugewandt. Mit einem schnellen Handgriff habe ich die Probe wieder zu mir genommen. Dieses Mal tue ich genau dasselbe, nur beachte ich nicht die Namen auf den Röhrchen. Wessen Probe ich erwische, will ich nicht wissen. In meinem Jeep hole ich die Röhrchen hervor und blicke auf die kleinen Klebestreifen. Ich muss sie vorsichtig abziehen, damit nicht auffällt, dass sie vertauscht wurden. Meine Hände zittern nicht mehr so heftig und ich atme einige Male tief ein und aus. Die Beschriftung meiner Blutprobe lässt sich leicht abziehen. Dann nehme ich mir das zweite Röhrchen vor und sehe den säuberlich geschriebenen Namen auf dem Aufkleber.
Walker, Asher Tracker Nr. 52 2020/17/12
Ich halte inne, dann ziehe ich scharf die Luft ein. Wieso habe ich nicht, verdammt noch mal, auf die Beschriftung der Blutproben geachtet. Wieso habe ich gerade diese hier erwischt. Das kann ich dem Jungen nicht antun. Wer weiß, was der Kleine schon alles durchgemacht hat, bevor ich ihn ins Camp gebracht habe. Aber es ist zu spät. Entweder Ashers Probe, oder ich bin verloren. Das bin ich sowieso schon. "Tut mir Leid, Buddy", flüstere ich und ziehe den Aufkleber von der Blutprobe. Er lässt Klebreste zurück, die ich nur schwer abpulen kann, doch dann habe ich es geschafft. Mein Magen krampft sich zusammen und ich kann gerade noch rechtzeitig die Autotür öffnen, bevor ich neben dem Wagen Blut spuke.
Es ist nicht schwer, die vertauschten Proben wieder an ihren Platz zu bringen. "Habe wohl meine Mütze hier irgendwo liegen lassen", sage ich zu Dumbo und blicke mich suchend im Raum um. Er ist so in seine Arbeit vertieft, dass e nicht einmal aufschaut. "Ja klar, sehen Sie einfach nach," murmelt er und schreibt ein paar Notizen aufs Papier. Ich stelle die Röhrchen zurück in den Pappbecher und greife nach meiner Mütze. Auf dem Weg zurück zu meinem Jeep, denke ich an Maya. Ich denke daran, wie sie sterben musste. Vollkommen alleine und verstoßen von den Menschen aus diesem Camp. Mein Kopf beginnt schmerzhaft zu pochen. Ich habe sie genauso alleine gelassen. Ich hätte mit ihr gehen können, aber ich tat es nicht, weil ich zu große Angst vor dem Sterben hatte. Zu große Angst, mit ansehen zu müssen, wie die Seuche mir Maya nimmt. Ihr Stück für Stück den Verstand raubt und sie mit unerträglichen Schmerzen quält. Ich wollte es nicht mit ansehen und ließ sie gehen. Das ich infiziert wurde, ist meine Strafe, sie verlassen zu haben. Jetzt ist es an der Zeit die Menschen aus Eden dafür zu bestrafen.
Ich werde nicht alle anstecken können. Aber genug, damit sich die Seuche ausbreitet und die Menschen erkennen müssen, wie es ist, alleine zu sterben. Sie werden um Hilfe flehen, wie Maya es tat. Und sie werden erkennen müssen, dass ihnen keiner hilft. Sie sollen genauso leiden, wie Maya es musste. Wie ich es muss. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin ein gerechter Mann.
Wirklich zufrieden mit diesem Kapitel bin ich nicht. Aber ich musste endlich wieder etwas zu Papier bringen.... Ihr habt lange genug gewartet.
P.S.: Ich habe versucht, einige Kapitel "anständig" zu formatieren. Richtige Absätze für die wörtliche Rede werden bei mir aber immer automatisch wieder gelöscht, oder völlig verkehrt formatiert. Ich arbeite dran.
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Die Seuche #FirstBookAward2019
Fiksi IlmiahDie Seuche bringt den Tod. Wer überleben will muss fliehen. Diese Regel befolgen auch Quinn und ihr kleiner Bruder Asher. Ihr Ziel ist Camp Eden, ein militärisches Auffanglager. Doch selbst hinter seinen schützenden Zäunen ist niemand sicher. Quinn...