Ich binde mir mein Haar zu einem Pferdeschwanz hoch und steige in meinen Schutzanzug. Die neue Atemmaske werde ich erst vor dem Tor anziehen. Sie ist schwer und liegt eng an und ich werde sie noch den gesamten Vormittag tragen müssen. "Bist du fertig?", fragt mich Erin, und knabbert lustlos an einem Fruchtriegel. "Klar", antworte ich und nehme den Riegel entgegen, den sie mir anbietet. "Hast du keinen Hunger?", frage ich sie und schiebe mir ein Stück in den Mund. Erin schüttelt den Kopf, wobei sich ein paar Strähnen ihres schwarzen Haares aus dem Zopf lösen. "Nicht so früh am Morgen", mault sie und gähnt. "Wer hat uns eigentlich für den Frühdienst eingeteilt?" Ich zucke mit den Schultern. Im Gegensatz zu Erin bin ich mit der Dienstzeit zufrieden. Das frühe Aufstehen ist kein Problem für mich und den Nachmittag habe ich frei. "Es sind nur zwei Wochen, dann darfst du wieder ausschlafen", entgegne ich. Erin stöhnt. "Ich zähle schon die Stunden." Ich grinse sie an und wir machen uns auf den Weg zum Sanitätszelt im Erstauffanglager. Am Tor ziehe ich die Atemschutzmaske an und zeige dem Soldaten meinen Ausweis. Er wirft einen halbherzigen Blick darauf und lässt mich passieren. Ich bin seit zwei Wochen im Dienst und mittlerweile kennt er mich. "Du weißt schon, wer heute Dienstführung hat?" fragt mich Erin und blickt mich schelmisch von der Seite an. Ich zucke die Schultern, aber insgeheim weiß ich genau von wem sie spricht. "Wenn du willst, dass das zwischen dir und Caleb geheim bleibt, dann musst du in seiner Gegenwart echt anders reagieren", ärgert sie mich. Ich sehe sie finster an. "Zwischen Caleb und mir läuft nichts!", zische ich. Erin kichert. "Aber du hättest es gerne so", zieht sie mich weiter auf. Ich beschließe das Thema einfach ruhen zu lassen. "Hast du die Proben von gestern in das Labor gebracht?", frage ich. "Natürlich", antwortet sie und ich bin ihr dankbar, dass sie auf meinen Themenwechsel eingeht. "Sie kommen mit dem Analysieren nur noch sehr langsam hinterher." "Ich habe gehört, dass die Wartezeit für Neuankömmlinge mittlerweile elf Tage beträgt." Für die Betroffenen ist es eine Qual so lange in vollkommener Unsicherheit abwarten zu müssen, doch es zeigt auch, dass immer mehr Überlebende Eden erreichen.
Als wir am Zelt ankommen ist Caleb bereits da und unterhält sich mit einem Tracker. Ich winke ihm kurz zu und räume dann neue Kanülen und Röhrchen in die Schubladen ein. Nach ein paar Minuten kommt Caleb zu mir herüber gelaufen. Er trägt einen Karton Papierrollen und stellt sie auf einer der Liegen ab. Er ist frisch rasiert, nur die Strähnen seines braunen Haars fallen ihm noch immer in die Stirn. "Guten Morgen", begrüßt er mich und ich erkenne das kleine Grübchen. "Habe ich etwas im Gesicht", fragt er mich plötzlich und ich schaue sofort verschämt weg. Er hat bemerkt, dass ich ihn anstarre. "Nein", stottere ich und schüttele den Kopf. "Die Blutproben von Rhett Morgan sind gestern Abend aus dem Labor gekommen", sagt er, während er die Rollen auspackt. Ich erinnere mich einen süßen Fünfjährigen mit Sommersprossen, dem ich vor ein paar Tagen Blut abgenommen habe. Er war wirklich niedlich mit seinen Pausbacken. "Durfte er ins Camp?", frage ich und sehe Caleb an. Dieser schüttelt niedergeschlagen den Kopf. "Seine Testergebnisse waren positiv." Mein Bauch verkrampft sich und mir wird übel. "Wenn er infiziert ist...", fange ich an, "Wo wird er jetzt hingebracht?" Caleb stellt den leeren Karton unter die Liege und lehnt sich an ihr an. "Es gibt keine Heilung für die Seuche. Der Junge hätte andere Campbewohner infizieren können." Ich starre Caleb mit offenem Mund an. "Hätte?", wiederhole ich und hoffe, dass ich mich verhört habe. Caleb kommt einen Schritt auf mich zu und sieht mich mit seinen grünen Augen an. Diesmal spiegelt sich nicht Wärme in ihnen, wie an dem Tag, an dem ich ihn kennengelernt habe, sondern Schmerz. "Quinn", setzt er an, "Rhett war eine Gefahr. Er musste das Camp verlassen." Ich sehe ihn fassungslos an. "Der Junge ist fünf! Er ist vollkommen alleine und wird da draußen sterben!", schreie ich und spüre heißen Tränen über meine Wangen laufen. Wie kann man nur so grausam sein und ein todkrankes Kind sich selbst überlassen? Mir ist speiübel. "Das ist die Regel. Entweder der Infizierte verlässt das Camp, oder er wird erschossen", sagt Caleb. Seine Stimme ist rau. "Wenn du weißt, was mit ihm passiert, wie kannst du es nur zulassen?" schreie ich ihn an. Kaum habe ich die Frage ausgesprochen, weiß ich wie dumm sie ist. Was kann Caleb denn dafür? Er schüttelt den Kopf. "Weil ich keine andere Wahl habe, Quinn! Ich habe keine andere Lösung, auch wenn ich ständig nach einer suche. Es geht hier ums Überleben!" Er presst die Kiefer aneinander und krallt sich in den Schaumstoff der Liege. Ich schließe die Augen und atme tief aus. Ich weiß, dass Caleb Recht hat. Die Seuche ist unaufhaltsam, und das mindeste was wir für unser Überleben tun können, ist, die Infizierten von den Gesunden so weit wie möglich fernzuhalten. "Es tut mir Leid", sagt Caleb nach einer Weile, aber ich schüttele den Kopf. "Das muss es nicht. Es ist nicht deine Schuld." Eine Weile bleiben wir einfach stehen und schweigen, dann wenden wir uns wieder unserer Arbeit zu. Ich muss das Ganze erst einmal verdauen.
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Die Seuche #FirstBookAward2019
Ciencia FicciónDie Seuche bringt den Tod. Wer überleben will muss fliehen. Diese Regel befolgen auch Quinn und ihr kleiner Bruder Asher. Ihr Ziel ist Camp Eden, ein militärisches Auffanglager. Doch selbst hinter seinen schützenden Zäunen ist niemand sicher. Quinn...