Kapitel 4.

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Will führt uns zu einem der weißen Zelte, die in langen Reihen nebeneinander aufgestellt wurden. Ein rotes Kreuz ist auf die Seite gedruckt. Er hält die Plane hoch, damit wir eintreten können.
Ein paar Plastiktische und mehrere Liegen sind an die Zeltwände geschoben. In der Mitte steht ein Campingofen, um den sich ein gutes Dutzen Leute drängen. Weitere Personen in weißen Schutzanzügen und Atemmasken, die das gesamte Gesicht bedecken, laufen herum und führen Überlebende zu den Liegen. Sie alle tragen die grell orangenen Bänder um den Arm und hantieren mit Nadeln und Röhrchen herum. Ich gehe davon aus, dass sie Sanitäter oder Ärzte sind.
Ein kleines Mädchen mit schwarzen Zöpfen sitzt auf einer der Liegen und klammert sich an einem Stoffhasen fest. Als ein Sanitäter ihren Ärmel hochschiebt und ihr Blut abnimmt, wimmert sie leise.
Das Zelt ist erfüllt von Stimmengewirr und dem stetigen Brummen des Heizofens.
„Bevor ihr ins Camp könnt müssen wir wissen ob ihr gesund seid", erklärt Will. „Ich hoffe ihr habt keine Angst vor einer kleinen Nadel", scherzt er dann. Dafür habe ich genug durchgemacht, als mich vor einem Picks zu fürchten, denke ich.
„Haben wir nicht", erwidert Ash und schüttelt energisch den Kopf. „Caleb!" Will winkt einem Mann in Schutzanzug zu.
„Kannst du die beiden hier übernehmen?", fragt er und deutet auf Ash und mich.
Der Mann sieht uns an, dann hält er den Daumen hoch. Will verabschiedet sich von uns und verlässt das Zelt.

Der Mann, den Will Caleb genannt hat, kommt zu uns und deutet auf die Liege neben dem Mädchen.
„Bitte."
Durch die Atemmaske ist seine Stimme gedämpft. Mit einem Blick mache ich Ash verständlich, dass ich zuerst gehe. Die Liege ist hoch genug, dass meine Füße über dem Boden baumeln. Ich ziehe meinen rechten Arm aus der Jacke und krempele den Ärmel hoch. Caleb betupft die Haut meiner Armbeuge mit Desinfektionsmittel, dann holt er eine in Plastik verpackte Kanüle aus einer Schublade.
„Das wird jetzt ein wenig Stechen", sagt er.
„Ich habe schon Schlimmeres erlebt", erwidere ich tonlos, zucke aber dennoch ein wenig, als die Nadel meine Haut durchsticht. Während er konzentriert auf das Röhrchen blickt, das sich langsam mit meinem Blut füllt, betrachte ich ihn.
Ein paar widerspenstige, kastanienbraune Strähnen fallen ihm in die Stirn. Braune Bartstoppeln lassen ihn älter aussehen, als er wahrscheinlich ist. Ich schätze ihn auf nicht älter als zwanzig.
„Du bist etwas jung, um Arzt zu sein", stelle ich fest.
Caleb runzelt die Stirn, aber ich sehe ihn durch das Plastik lächeln. Dabei erscheint ein kleines Grübchen auf seiner linken Wange. Ich frage mich, ob es eine Narbe ist.
„Ich habe eine Sanitätsausbildung an der High School gemacht. Das Medizinstudium danach musste ich leider abbrechen", sagt er und blickt mich an. Seine Augen sind von einem warmen dunkelgrün.
„Wir brauchen hier wirklich jede Hilfe, falls du dich freiwillig melden möchtest."
Ich schüttele den Kopf. „Tut mir leid, aber ich war im Fotografie-Club. Die Sanitätsgruppe wäre aber bestimmt meine zweite Wahl gewesen", erwidere ich. Ein schlechter Scherz.
Das Röhrchen ist voll und Caleb klebt mir ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle.
„Zur Not zeigen wir dir die nötigen Handgriffe. Jedes Paar Hände ist wirklich eine große Hilfe", entgegnet er, dann winkt er meinen Bruder zu sich.

Ich rolle meinen Ärmel wieder herunter, und gehe zurück zum Zelteingang. Der Campingofen arbeitet auf Hochtouren, trotzdem fröstle ich. Ich hauche in meine Hände und trete näher an den Ofen.
„Wie lange braucht man für so eine Blutanalyse?", frage ich Caleb, der gerade Ashs Probe in einen Pappbecher stellt.
„Etwa eine Woche. Unsere Labore sind begrenzt. Bis dahin werdet ihr beide im Erstauffanglager untergebracht", antwortet er.
Ich nicke, spüre aber gleichzeitig eine Welle an Erschöpfung über mich rollen. Bis mein Bruder und ich wirklich sicher sind, dauert es noch eine Woche. Tage, die wir in einem Camp voller potenziell Infizierter verbringen müssen.

Ash und ich teilen uns ein Zelt mit zehn weiteren Personen. Die Stockbetten sind eng aneinander gerückt um nicht an den kalten Zeltwänden zu stehen. In der Nacht wärmen uns braune Militärdecken, die Tage verbringen wir außerhalb der Zeltstadt in der Nähe des Zauns, um das Infektionsrisiko so klein wie möglich zu halten. Alle Menschen im Auffanglager warten auf ihre Blutproben. Wir wissen nicht, wer infiziert ist, und wer nicht, deshalb tragen Ash und ich die Atemmasken auch beim Schlafen.
Obwohl er mich deswegen ständig nervt und für paranoid hält, bleibe ich in dieser Hinsicht standhaft. Auch wenn ich bisher nicht mitbekommen habe, dass eine infizierte Person im Lager gefunden wurde, muss ich zugeben, dass ich Angst habe. Ich könnte es nicht ertragen, auch noch meinen kleinen Bruder zu verlieren, und es ist naiv zu glauben, dass Ash meinen Tod verkraften würde.

Die Seuche #FirstBookAward2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt