09| Neuntes Kapitel

378 46 17
                                    


Das Atemgeräusch zweier Männer war neben stetigem Wassertropfen das einzige Geräusch, welches von den kalten Wänden des alten Bunkers widerhallte.

Ein spöttisches Lächeln umspielte Calvins Lippen, als der braunhaarige Mann vor ihm immer weiter zurückrutschte, bis er bei der Ecke angelangt war und gegen die Wand stieß. Erbärmlich. Dieser Mensch war einfach nur erbärmlich.

„Wo ist deine große Klappe geblieben, hm? Willst du mich nicht wieder beleidigen und nach mir treten, genau wie früher? Wo ist der Junge geblieben, der jede Pause aufs Neue versucht hat, meinen Kopf in der Kloschüssel unterzutauchen? Der mich gezwungen hat, Erdnussriegel zu essen, obwohl er wusste, dass ich dagegen allergisch bin?"

Calvin ging vor dem Mann, der ihn aus weit aufgerissenen Augen, in welchen sich seine Angst spiegelte, anblickte, in die Hocke.

„Du bist verrückt." krächzte er leise.

Doch der junge Mann lachte nur. „Ja, vielleicht bin ich das. Doch du bist nicht unschuldig daran und jetzt werde ich mich endlich an dir rächen!"

„Ich habe das Recht auf psychische und physische Unversehrtheit! Das ist strafbar!"

Calvin lachte nur über den schwachen Versuch seines Opfers. „Dieses Recht habe und hatte ich damals auch! Aber hat es dich interessiert? Nein! Genauso wenig wie mich jetzt! Ich habe schon einmal jemanden umgebracht, deinen kleinen Lakai, du erinnerst dich? Glaubst du wirklich, es stört mich, dass das hier strafbar ist?"

Sein früherer Peiniger, Leon, keuchte erschrocken. „Julian?"

„Exakt."

Langsam, beinahe schon zärtlich fuhren Calvins Finger über die scharfe Klinge des Messers, welche im schwachen Licht der kleinen Glühbirne gefährlich blitzte. Diese Klinge, einfach nur ein kleines Stück von geschärftem Edelstahl konnte Leben nehmen. Doch nicht jetzt, nicht hier, nicht heute. Das hier würde er anders vollenden.

Er lächelte, dann drückte er das Messer auf die glatte Haut von Leons Arm. Er übte etwas Druck aus und ein kleines Rinnsal Blut lief aus dem kleinen Schnitt. Leon schrie, sein beinahe makelloses Gesicht schmerzverzerrt. Calvin jedoch machte unbeirrt weiter. Schnitt reihte sich an schnitt, Blutstropfen an Blutstropfen rannen seinen Arm hinab. Und dann war sein Werk vollendet.

R E V E N G E

Gut leserlich zierte das Wort den Unterarm des Mannes. Seine Haut war das Papier, ein Messer der Stift und Blut die Tinte.

„Beende es endlich und hör auf, mit mir zu spielen!" rief Leon, Tränen glänzten in seinen tiefblauen Augen. Calvin lächelte nachsichtig.

„Das werde ich - bald. Aber nicht damit." Er warf das blutverschmierte Messer auf den Boden und griff sich die Seile, welche vergessen in einem maroden Holzregal lagen. Calvin trat auf Leon zu, verdrehte ihm die Arme, bis er vor Schmerzen stöhnte. Dann fesselte er sie auf den Rücken. Auch um die Füße des Braunhaarigen schlang er die Seile, bevor er sie verknotete und zurücktrat. Zufrieden betrachtete er sein Werk.

Er hob sein Messer auf und drehte den Wasserhahn des kleinen Waschbeckens auf. Seelenruhig wusch er zuerst das Messer, dann drückte er einen schwarzen Stöpsel in den Abfluss und trat mit aller Kraft gegen den Hahn, welcher nur aus Plastik bestand und sofort abbrach. Gleich darauf sprudelte mehr Wasser heraus und füllte das Waschbecken in Sekundenschnelle, bevor es über den Rand lief.

„Jetzt darfst du am eigenen Leib erfahren, wie ich mich gefühlt habe, als du immer wieder meinen Kopf in die Kloschüssel getaucht hast. Mit dem Unterschied, dass du nicht mehr lebend aus der Sache herauskommst. Der Vorteil dieses Bunkers ist nämlich, dass er wasserdicht ist. Das bedeutet, es kommt kein Wasser hinein - aber auch nicht nach draußen. Bis man dich findet, wird dein erbärmliches Herz nicht mehr schlagen. Lebe wohl, Leon. Oder sollte ich eher sagen: Sterbe wohl."

Lachend lief Calvin die Stufen nach oben und zog die dicke Luke aus Stahl hinter sich zu, augenblicklich verstummte das Rauschen des Wassers. Endlich hatte er sein Ziel erreicht.

Es war ihm egal, dass ihm nur noch maximal wenige Stunden blieben, bis die Polizei ihn fand. Sie würden ihn ohnehin finden, nur nicht mehr lebend.

Gemächlich spazierte er durch den Wald, bis er zu einer kleinen Lichtung kam. Er schlenderte zu der großen Linde am Rand und ritzte in die Linde den Namen jener Person, welche es ihm durch ihre unendliche Naivität möglich gemacht hatte, sein Lebensziel zu erfüllen. LIVIE. Er schälte mit dem Messer mehrere Stücke der Rinde unter dem Namen ab und kramte einen wasserfesten Stift aus seiner Jackentasche. Er schrieb eine Frage auf die Rinde, die Livie ihm sicherlich gestellt hätte, wenn alles anders gekommen wäre. Er ließ ein wenig Platz, bevor er daneben die Antwort, die er gegeben hätte, niederschrieb. Dann rammte er das Messer daneben in den Baumstamm. Mochte sie daraus lernen und aufhören, in allen das Gute zu sehen, die schon lange vom Bösen zerfressen wurden.

Ein letztes Mal betrachtete er die unordentlich geschriebenen Worte unter ihrem Namen, bevor er sich endgültig abwandte.

„Und wie ist es ausgegangen?"

„Ich habe ihn ermordet. Und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich würde es immer wieder tun. Deshalb halten sie mich für verrückt. Darum bin ich hier und nicht im Knast."

Er schritt zielsicher zu einem Busch und holte aus dem Gestrüpp einen kleinen schwarzen Beutel, aus dem er ein durchsichtiges Fläschchen fischte. Reines Solanin*. Dieses Gift wirkte in hoher Dosis eingenommen sehr schnell. Wenn die Polizei ihn dann fand, würde er längst tot sein.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen setzte er sich in das sonnenbeschienene Gras und öffnete das Fläschchen. In zwei Schlucken hatte er es geleert. Calvin lag ruhig auf dem Rücken, während er die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut spürte und die letzten, friedlichen Atemzüge seines Lebens genoss, in dem Wissen, sich endlich gerächt zu haben. Und dann verabschiedete er sich endlich von dieser erbärmlichen Welt.

*Solanin ist ab einer Menge von 400mg für einen erwachsenen Menschen tödlich

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.

*Solanin ist ab einer Menge von 400mg für einen erwachsenen Menschen tödlich. Das Gift ist in Nachtschattengewächsen wie Tomaten und Kartoffeln enthalten, in der geringen Dosis jedoch nicht gefährlich. Leider habe ich im Internet keine genaue Angabe zur Wirkungszeit von Solanin, bis der Tod auftritt, gefunden, da die Angaben stark schwanken.

Murder Conversation| ✓ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt