Krank

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Sprite stupst mich mit seinen winzigen rosa Vorderpfoten an – und das erste Mal seit Stunden fühle ich mich sowas wie entspannt. Die beiden Ratten sitzen auf meinem Schreibtisch und scheinen mit ihren schwarzen Augen das Heft zu beäugen, das vor mir liegt. Neben den Mathehausaufgaben, die ich zumindest zu 90 Prozent lösen konnte, steht ein Referat über den Erlkönig von Goethe an. Zwei Seiten Minimum Gedichtinterpretation. Deutsch fällt mir leicht und ich mag Gedichte, auch wenn ich da eine der wenigsten in der Klasse bin. Die meisten finden das ganze Zeug nur „schwul" und machen blöde Witze darüber.

„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind....."

Mein Füller gleitet über das weiße Blatt und ehe ich mich versehe, habe ich schon die halbe Seite vollgeschrieben. Ich halte einen Moment inne und betrachte meine Schrift. Kleine Buchstaben mit Neigung nach links. Meine Deutschlehrerin Frau Schilling meinte einmal zu mir, dass mein Schriftbild typisch für das eines zurückhaltenden Menschen wäre, der „in sich ruht und lieber beobachtet, als mitten im Geschehen ist". Da hat sie nicht unrecht.

„Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif."

Ich zucke zusammen, als im Raum ein Laut erklingt. Ein Klopfen, wie auf Glas. Mein Blick wandert zum Fenster, doch draußen ist alles dunkel – und außerdem befindet sich mein Zimmer unterm Dach, sodass niemand davor stehen kann. Oder wirft da jemand Steine gegen das Fenster? Aber wer – und warum?

Wieder klopft es und die Scheibe wackelt im Rahmen. Nicht nur ich, auch Cola und Sprite starren zum Fenster. Die Nasen meiner beiden Ratten zucken und Sprite lässt ein hohes Fiepen hören. Ehe ich meine Hand beruhigend nach den beiden ausstrecken kann, sind die beiden Pelzknäuels auch schon verschwunden, verkrochen hinter den Ritzen meines Schreibtisches. Gerade, als ich aufstehe, klopft es wieder, diesmal so laut, dass ich zusammenfahre und für eine Sekunde befürchte, die Scheibe könne zerbrechen und tausend Splitter in mein Zimmer regnen.

Als ich davorstehe, sehe ich nur Schwärze. Die Straßenlaterne, die normalerweise einen gelben Dämmerschein durch das Fenster wirft, ist nicht zu sehen. Eine Sekunde hadere ich mit mir, dann mache ich den Schritt zum Lichtschalter und knipse ihn aus. So ist es auch hier im Zimmer dunkel, aber meine Augen gewöhnen sich schnell an die Dunkelheit draußen. Der alte Baum wiegt seine knochigen Zweige im Wind. Der von Kieseln gesäumte Weg von der Straße zu unserem Haus ist leer. Niemand zu sehen. Gerade will ich die Lampe wieder anmachen, als hinter mir ein Scheppern ertönt. Mit schlagendem Herzen fahre ich herum – und sehe das verblüffte Gesicht meiner Mum, die im Türrahmen steht.

„Mila, Mädchen, was stehst du denn hier im Dunkeln? Ist die Glühbirne kaputt gegangen?"

Ich erzähle Mum nichts von den Geräuschen. Sie würde sich wahrscheinlich gleich ausmalen, dass ein irrer Serienmörder vor unseren Fenster stände und das will ich definitiv lieber vermeiden. Zwei Stunden später liege ich in meinem Bett, unter die warme Decke gekuschelt. Die Rollos sind heruntergezogen – nur für den Fall.
In dieser Nacht plagen mich Albträume. Finstere Gestalten jagen mich durch einen kalten, dunklen Wald. Immer weiter verdichten sich die knorrigen Bäume, ich stolpere über Äste, Wurzeln und reiße mir die Haut auf. Hinter mir die düsteren Wesen, die die langen, dürren Arme nach mir ausstrecken und deren spitze Fingernägel tiefe Wunden in meinen Rücken bohren, bis -

- bis ich von meinem Handyton geweckt werde.

Das Kissen unter meinem Kopf ist feucht und durchgeschwitzt und nicht nur das. Ich fühle mich richtig elend, die Stirn pocht, meine Brust ist wie zugeschnürt und eine seltsame Übelkeit, die sich anfühlt, als hätte ich zehn Tage nichts gegessen, erfüllt mich. Sollte ich mich am Ende doch bei Paul und Lukas angesteckt haben?

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„Nein Schatz, die Windpocken hast du schon hinter dir." Mum steht vor mir und fuchtelt mit einem Fieberthermometer vor meiner Nase herum. „Vielleicht nur eine Grippe...die geht momentan herum."

Sie klemmt mir das Teil zwischen die Lippen und fühlt meine Stirn. „Du glühst! Heute bleibst du auf jeden Fall zuhause, Mila!" Das Thermometer zeigt 38,5 Grad und ich bekomme Bettpflicht verordnet. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, im Moment würde ich es nicht mal ins Bad schaffen. Ich merke noch, wie Mum mir eine Tasse Tee ans Bett stellt, dann dämmere ich wieder weg, zurück in den düsteren Wald mit seinen nach mir greifenden Monstern.
Die Grippe – eine ausgewachsene Influenza, diagnostizierte unser Arzt bei einem Hausbesuch – hält mich ganze acht Tage lang ans Bett gefesselt. Irgendwie schaffe ich es alle paar Stunden zur Toilette, ansonsten liege ich nur da, entweder schlafend oder im Wachkomaartigen Zustand. Mum flößt mir hin und wieder warmen Lindenblüten- und Kamillentee ein, einmal denke ich, dass Dad vor mir steht und mir übers Haar streicht, ansonsten höre ich nur Cola und Sprite in ihrem Laufrad herumtoben.

An Tag neun bin ich immerhin soweit, dass ich mich aufsetzen kann. Nachmittags nach Schulschluss kommt mich Nina besuchen. Ich muss etwas lachen, als ich ihre Trauermiene sehe. „Hey Mila...", begrüßt sie mich und legt einen grünen Stein auf meinem Nachtisch ab. Als sie meinen fragenden Blick sieht, zuckt sie mit den Schultern. „Der ist von meiner Mutter...angeblich hilft das Ding bei Unwohlsein und Ermüdungen. Ich glaub zwar nicht dran, aber immerhin sieht er ganz hübsch aus, oder?"

„Danke!", krächze ich und merke, wie angeschlagen meine Stimme klingt. Ich hab sie zu lange nicht benutzt. „Auch an deine Mum! Mir geht's schon besser.."

Meine Freundin runzelt die Stirn. „Echt? Du siehst total mies aus. Soll natürlich keine Beleidigung sein: Aber für die Party könntest du glatt als Zombie durchgehen!"
„Ha ha!", erwidere ich krächzend. „Ähm...welcher Tag ist heute?"
Nina blickt mich mitleidig an. „Du musst ja echt weggetreten gewesen sein. Heute ist der 26te. Montag. Kommst du diese Woche noch zur Schule oder bist du noch zu krank?"
„Keine Ahnung...bis Halloween will ich aber wieder fit sein!" Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen.
„Auf jedenfall!", stimmt mir Nina zu. „Das wär echt fies, wenn du das nicht miterleben könntest! Alle sind schon total aufgeregt deswegen. Die ersten Pläne stehen auch schon. Und apropos Grusel...wir haben seit heute eine neue Schülerin in der Klasse!"
Ich horche auf.

Neue Gesichter gibt es in Tiefenbach mehr als selten. Wenn überhaupt, ziehen die Leute von hier weg in die nächste größere Stadt. Nur ganz selten verirren sich sogenannte Aussteiger, die keine Lust mehr auf Großstadt, Staus und Menschenmengen haben, hierher.
„Sie heißt Lisbeth. Schätze mal, das ist eine Abkürzung für Elisabeth oder so. Und -" Nina zieht die Augenbrauen hoch und flüstert mit verschwörerischer Stimme „Sie ist echt total megamäßig seltsam. Also richtig, richtig seltsam. "
Auf eine Handbewegung meinerseits hin, fährt sie fort. „Sie kommt aus den USA oder Kanada, ganz genau hab ich das nicht verstanden. Deutsch spricht sie dafür aber ziemlich gut. Aber – und jetzt halt dich fest – sie hat grüne Haare! Grasgrün! Herr Wolf sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen, als er sie in der Tür stehen hat sehen! Und sie hatte ein Tattoo am Arm, zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass das echt war! Meine Mutter würde mich umbringen!" Sie stößt die Atemluft mit lautem Zischen aus und sieht ziemlich fasziniert aus. „Rina hat sich gleich mit ihr angelegt! Beziehungsweise, Lisbeth hat sich mit Rina angelegt und sie so richtig schön auflaufen lassen! Rina war den ganzen restlichen Tag überraschend still. Richtig befriedigend zur Abwechslung!"
Mit einem zufriedenen Seufzer lehnt Nina sich zurück in meinen Schreibtischstuhl und sieht mich grinsend an. „Auf jedenfall wohnt Lisbeth anscheinend in dem alten Haus unten am Waldrand, du weißt schon, das, dass ewig leer stand! Ich würde da ja nicht freiwillig leben wollen, bestimmt alles voller Spinnen und Moder."

Während wir uns über die Halloweenparty, verpasste Hausaufgaben und Sarinas neueste Lästerein unterhalten, schweifen meine Gedanken immer wieder zu der neuen Schülerin ab. Die klingt ja definitiv nicht so, als würde sie nach Tiefenbach passen...

Mila MondlichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt