Verschüttet

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Mein Magen knurrt und ich bin geradezu entsetzt darüber, wie mein Körper jetzt an so etwas nichtiges wie Essensaufnahme denken kann! Robert starrt mich an und murmelt irgendetwas von Schokoriegeln in seinem Rucksack, aber ich lehne stumm ab.
Ich fühle mich, als würde ich nie wieder etwas essen können.
Und vielleicht ist das auch so. Vielleicht sitzen wir hier für immer fest, zusammen mit den verschütteten Leichen Jahrhundertealter Bergarbeiter im Gestein.
Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle und Rotz läuft mir das Gesicht hinab. Gut, dass Elias mich jetzt nicht sehen kann.

"Hat jemand eine Uhr oder sowas?"
Wir sitzen zu dritt nebeneinander, Nina hat das verletzte Bein ausgestreckt und ist noch immer kreidebleich im Gesicht. "Oder kann ungefähr abschätzen, wie lange wir hier schon feststecken?"
Ich schüttele nur den Kopf, jegliches Zeitgefühl ist mir schon lange abhanden gekommen. Es könnte Nacht sein, frühester Morgen - es könnten aber auch erst ein, zwei Stunden vergangen sein. "Keine Ahnung.", sage ich. "Meint ihr, die haben inzwischen gecheckt, dass wir weg sind?"
Nina lässt einen Laut von sich hören, der wie ein halbes Lachen klingt. "Vielleicht vergessen die uns absichtlich hier. Die Hoffmann hat mich jedenfalls schon immer gehasst."
"Quatsch!", erwidere ich. "Spätestens unsere Eltern werden uns ja wohl vermissen. Und die werden die Polizei rufen. Und dann ist eh klar - verloren gegangen im Bergwerk. Und dann schaufeln sie uns frei."
Kurz bilde ich mir ein, tatsächlich ein Scharren zu hören - vielleicht von Spaten und Schaufeln, die den runtergekommenen Schutt entfernen und sich den Weg zu uns bahnen. Aber das ist wahrscheinlich nur Einbildung. Oder ich werde ganz einfach verrückt.

Robert hat die letzte Zeit nur geschwiegen. Er lehnt an der Wand und starrt ins Leere. In seinem dunklen Haar klebt ein wenig Staub.
Er ist mir früher nie so wirklich aufgefallen. Ein ruhiger Schüler, der irgendwie erwachsener wirkt als der Rest der Klasse. Schwarze Haare, grüne Augen, ziemlich großgewachsen. Ich glaube, wir haben in den letzten Jahren kein einziges Wort miteinander gewechselt, auch wenn wir fast jeden Tag nur wenige Meter auseinander saßen.
Sein Blick fängt den meinen auf und ich schaue schnell weg.

"Die Schmerzen bringen mich um.", sagt Nina und betrachtet ihr von sich gestrecktes Bein. "Es fühlt sich total ekelhaft an. Bestimmt werd ich es verlieren."
"Das ist nur gebrochen, wegen sowas wird man nicht amputiert. Halt es einfach ruhig und schirm es vor Schmutz ab.", murmele ich.

"Ich könnte es nicht mal bewegen, wenn ich wollte.", erwidert meine Freundin und verzieht den Mund. "Verdammt, dieses sinnlose Warten macht mich fertig!"

Als wäre dieser Satz der Aufhänger gewesen, erklingen plötzlich Geräusche.
Ein Klopfen, dem ein Scharren folgt, als würde jemand mit bloßen Fingern an eine Steinwand kratzen. Mein Herz macht einen Sprung – Rettung! Das muss die Feuerwehr sein, oder ein Bergrettungsteam! Oder wer auch immer in solchen Fällen zuständig sein mag. Meine Brust fühlt sich auf einmal viel leichter an und als ich mich aufrichte und Nina anstupse, bin ich mir absolut sicher, dass jetzt alles gut werden wird. „Hey! Die Rettung naht!", sage ich und sehe, wie sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen bildet.

„Nein."

Mein Kopf fährt hinüber zu Robert, der noch bleicher aussieht wie zuvor. „Was meinst du mit Nein?", erwidere ich. „Die räumen den Schutt weg und wir sind frei, wahrscheinlich schneller, als wir schauen können.

„Das Geräusch kommt nicht von dort! Hör mal richtig, Mila – es kommt von dem Stollen hinter uns. Von dem, in dem die Bergarbeiter verschüttet wurden!" Jetzt bemerke ich es auch. Ich fahre herum und starre auf die Schwärze, die hinter der Schachtöffnung liegt. Tiefe, wabernde Dunkelheit. Oh Gott. Das Scharren und Schleifen wird lauter und ich weiche nach hinten, weg von dem Gang. Robert hinter mir stellt sich vor Nina.
Sämtliche Horrorfilmszenarien laufen mir durch den Kopf. Geister mit gruseligen Fratzen, düstere Schattenfiguren, Dämonen, Zombies. Fast erwarte ich, wie sich eine schwarze Hand mit viel zu langen, knochigen Fingern aus der Dunkelheit bewegt und nach uns greift. Robert neben mir versteift sich und starrt ebenso erwartungsvoll-gebannt auf den Eingang, wie ich es tue. Das Geräusch erfüllt mittlerweile die ganze Höhle. Ich weiß nicht, wie ich es mit einem Bohrer verwechseln konnte. Als sich etwas in der Schwärze bewegt und über die Schwelle tritt, schreie ich auf – Robert presst mir die Hand auf den Mund und zieht mich zurück. Und dann... sehen wir das Monster.  

Mila MondlichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt