Annie

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Sophie blickte gedankenverloren aus dem Fenster, während der halbleere Bus langsam durch den Freitagnachmittagsverkehr kroch. Das monotone Brummen der vielen Motoren hatte etwas ermüdendes und die ruhige Musik, die sie über ihre Kopfhörer hörte, trug noch mehr dazu bei, sie in einen Halbschlaf-Zustand zu versetzen. Plötzlich nahm sie das Quitschen der Bremsen wahr und spürte, wie der Bus anhielt. Sie öffnete ein Auge und blickte aus dem Fenster. Eine kleine Traube Menschen verließ das Fahrzeug, und traten in den frühen Abend. Eine alte Frau mit prall gefüllter Einkaufstasche stieg als einzige ein und setzte sich ein paar Plätze vor Sophie. Sie schloss die Augen wieder, sich der Tatsache gewiss, dass sie bei diesem Verkehr nicht vor einer halben Stunde Zuhause sein würde.
Als sie die Augen aufschlug, war es bereits dunkel. Wie von Blut getränkt zogen die roten Wolken über die Dächer der Stadt hinweg und die Sonne warf ein goldenes Licht zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Müde registrierte Sophie ein paar vertraute Häuser, Häuser aus der Nachbarschaft. Stumm ärgerte sie sich, sie war zu weit gefahren. Sie rappelte sich langsam auf, griff nach der Tasche unter ihrem Sitz und zog sich den linken Kopfhörer aus dem Ohr, der Rechte war ihr herausgerutscht. Sie warf sich ihre schwarze Tasche über die Schulter und stopfte die Kopfhörer in ihre Jackentasche. Der Bus wurde wieder langsamer, die Bremsen quitschten erneut und Sophie ging träge zu der ihr am nächsten gelegenen Tür. Ein Zischen ertönte und die Türen glitten auf. Sie stieg aus und drängte sich an ein paar neuen Passagieren vorbei auf den Bürgersteig. Nicht länger durch die Wände des Busses gedämpft drang der Lärm des Straßenverkehrs auf sie ein und der Dezemberwind blies ihr ein paar Regentropfen ins Gesicht. Selbstständig gingen ihre Füße den ihr so vertrauten Weg, bogen in verschiedene kleine Seitenstraßen ein und hielten schließlich vor einem großen, grauen Mehrfamilienhaus. Trotz der Schlüssel in ihrer Tasche betätigte sie eine der vielen gleich aussehenden Klingeln mit der Aufschrift "Twyke". Es vergingen ein paar Sekunden, dann ertönte ein Klicken und die Stimme eines kleinen Mädchens meldete sich mit einem gespielt ernsthaften "Hallo?". Trotz ihrer Müdigkeit musste Sophie lächeln. Sie gab einen undefinierbaren Laut von sich und gefolgt von einem leisen Kichern aus der Sprechanlage ertönte das Summen, das Sophie signalisierte die Tür zu öffnen. Sie trat in das übertrieben beleuchtete Treppenhaus und begann, die Backsteintreppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. An der Tür zu ihrer Wohnung erwartete sie mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen ihre fünfjährige Schwester Angelica, von allen außer ihren Großeltern jedoch Annie genannt. Sie trug einen rosa Schlafanzug und umarmte stürmisch Sophies Knie, als diese die Wohnung betrat. "Hallo, Kleine. Wo ist Mom?"
"Einkaufen.", antwortete das Mädchen prompt und lief in die geräumige Küche. "Aber hat Essen gemacht, willst du?", fügte sie hinzu und drehte sich um. "Ja! Was denn?", antwortete Sophie und bemerkte erst jetzt, wie hungrig sie eigentlich war. "Gurkenkäse", rief Annie aus der Küche, was Sophie unter Zucchini-Auflauf verstand. Ein Wort, dass Annies Meinung nach klang wie Seife. Sie betrat die Küche und fand Annie dabei vor, für zwei Leute den kleinen Tisch zu decken. Sie fuhr ihr einmal kurz durch die lockigen braunen Haare und ließ sich dann auf einen der drei Stühle fallen. "Ist Mom schon lange weg?", fragte sie und beobachtete ihre kleine Schwester, die gerade dabei war, zwei zueinander passende Bestecke zu suchen. "Nein, nicht lange.", antwortete Diese und legte das Besteck neben die beiden Teller auf den Tisch. Dann setzte sie sich ihr gegenüber und strahlte sie stolz an. Sophie grinste erneut, stand auf und ging zum Ofen hinüber. Sie zog eine Schale Auflauf heraus und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Sie belud beide Teller, und nach einem beidseitigen "Guten Appetit" fingen sie an zu essen.

Um halb acht trat Lily Twyke, eine große Plastiktasche in der einen und ihre Schlüssel in der anderen Hand, durch die Tür ihrer Wohnung, in der sie allein mit ihren beiden Töchtern Sophie und Angelica lebte. Lily arbeitete als Sekretärin im Police Departement von New York. Sie verdiente nicht viel, aber es reichte mehr als aus um die Kinder und sie nicht schlecht zu ernähren, war die Wohnung doch bereits abbezahlt. An diesem Freitag hatte Lily, dem allwöchentlichen Ritual getreu eine Lasagne machen wollen, doch als ihr auffiel, dass sie so gut wie kein Fleisch mehr im Haus hatte -was für eine Lasagne nach Meinung ihrer Töchter eine Grundvoraussetzung war- hatte sie stattdessen einen Auflauf gemacht und war zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Als sie wieder Zuhause ankam, war der Auflauf bis auf einen kleinen Rest leergegessen -es hatte offensichtlich geschmeckt- und ihre beiden Töchter saßen zusammen in Annies Zimmer, wo Sophie ihr gerade etwas vorlas. Leise öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte hinein. Sophie saß auf Annies Bett, Annie war auf Sophies Schoß eingeschlafen und Sophie war dazu übergegangen, dass Kinderbuch stumm für sich alleine zu lesen, um ihre Schwester nicht aufzuwecken. Lily lächelte müde, schloss die Tür wieder und begab sich in die Küche, um sich den Rest Auflauf einzuverleiben.

Am Ende will ich lachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt