Schnee

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Vier Tage später, an einem Freitag, war Annie nach Meinung ihrer Mutter wieder gesund genug, um nach draußen zu dürfen. Sophie hatte
den Vormittag über wieder auf sie aufgepasst, ihrer Schwester schien es wirklich besser zu gehen. Sie lachte wieder, redete und lief wie früher immer überall rum, so dass man aufpassen musste, nicht über sie zu laufen. Außerdem aß sie wieder. Als Sophie am Morgen aufstand und aus dem Fenster blickte, blieb ihr der Mund offen stehen. Alles war weiß. Es hatte die ganze Nacht über geschneit und es schneite immer noch, eine weiße Decke hatte sich über die Dächer der Häuser, den Innenhof und die Bäume gelegt. Die Konturen verschwanden und die strahlende Sonne wurde von dem makellos weißen Schnee reflektiert. Hätte sie die weiße Pracht nicht eben noch selbst durch das Fenster bewundert, so wäre sie spätestens durch Annies lautes Geschrei zehn Minuten später darauf aufmerksam geworden. "Schnee! Schnee! SCHNEEEEE!" Annie riss Sophies Zimmertür auf. "Es hat geschneit", sagte sie und strahlte dabei über das ganze Gesicht. "Ach, echt?", fragte Sophie belustigt und zog ihr Shirt an. "Ja wirklich. Überall draußen ist es weiß", rief sie begeistert und zog Sophie in Richtung ihres Fensters. "Können wir rausgehen? Bittebittebitte?" Annie blickte ihre große Schwester aus großen braunen Augen an, aber dieses mal blieb Sophie hart. "Willst du schon wieder krank werden?" "Ich zieh mich ganz warm an, ich bleib gesund, wirklich.", flehte das jüngere Mädchen. Sophie seufzte. "Nein Kleine. Wir warten, bis Mama zurück kommt und fragen sie dann. Ich kann dich nicht einfach so raus lassen." Es folgte eine zweistündige Tirade aus Bitten, Flehen, Weinen und Schreien. Am Ende sah Annie wohl ein, dass ihre Schwester sich nicht erweichen ließ und beließ es dabei, nur noch einsilbige Antworten zu geben und stets beleidigt zu gucken. Um elf machte Sophie ihnen beiden Spagetthi zum Mittagessen, und spätestens zu diesem Zeitpunkt war Annie die Lust am Schmollen vergangen und sie hatte sich ihrem Schicksal gefügt. "Sieh mal, deine ganzen Freundinnen müssen auch erst warten, bis sie nach Hause kommen bevor sie in den Schnee können. Und wenn du Glück hast und Mama heute früh nach Hause kommt, bist du nicht viel später dran als die Anderen auch", versuchte Sophie sie bei einem Nachtisch von zwei heißen Vanillepuddings zu beschwichtigen. Als Antwort bekam sie ein widerwillig zustimmendes Murmeln. Und Annie hatte Glück. Um halb drei hörten die beiden Mädchen von der Wohnzimmercouch aus einen Schlüssel im Türschloss und Lily Twyke betrat, in einen weißen Wintermantel gehüllt, die behaglich warme Wohnung. Wie der Blitz war Annie aufgesprungen und zur Tür gestürmt, wobei sie fast über eines ihrer in der Wohnung verstreuten Stofftiere stolperte. "Mama! Mama! Es hat geschneit!", rief sie. Glaub mir, Schatz. Das hab ich auch schon gemerkt", hörte man Lilys erschöpfte Stimme aus dem Flur. Sophie stand ebenfalls auf und ging zu ihnen in den Hausflur. Lily zog ihren Schal aus und hängte ihn neben ihren Wintermantel an die Garderobe. "Hallo, Große", begrüßte sie Sophie und schloss sie in die Arme. "Mama, kann ich nach draußen? Bitteeee?", drang Annie auf sie ein. "Lily bedachte sie mit einem zweifelnden Blick, dann schaute sie fragend zu Sophie. "Es geht ihr wirklich besser, eigentlich hat sie kein Fieber mehr. Aber ich wollte sie nicht ohne deine Erlaubnis raus lassen", beantwortete diese die unausgesprochene Frage. Ihre Mutter kniete sich vor Annie nieder und bedachte sie mit einem langen, prüfenden Blick. "Wir messen noch einmal nach, wenn du wirklich gesund bist, lasse ich dich raus. Aber nur mit Sophie zusammen. Sofort lief Annie los, um das Thermometer aus ihrem Zimmer zu holen, wo Sophie es zuletzt liegen gelassen hatte. "Ich hoffe, sie war nicht zu nervig?", fragte Lily ihre siebzehnjährige Tochter besorgt. "Sie ist nie nervig", antwortete Sophie lächelnd. Lily seufzte laut. Ihr beiden seid wirklich zwei Engel."

Eine Viertelstunde später kniete Sophie auf dem Boden im Flur und half ihrer Schwester dabei, ein Paar dicker Winterschuhe anzuziehen. Sie trugen beide dicke Winterjacken und Schneehosen, außerdem Schals, Handschuhe und Mützen. Annie konnte kaum warten, bis Sophie sich ihre eigenen Schuhe festgeschnürt hatte. Sie hüpfte auf und ab und als Sophie die Wohnungstür öffnete und sie in das kleine Treppenhaus traten, lief Annie so schnell sie konnte ins Erdgeschoss, um dort ungeduldig auf Sophie zu warten. Schließlich schloss Sophie endlich die Hintertür auf und sie traten gemeinsam auf den von Schnee bedeckten Hinterhof. Annie lief erst wild im Kreis und versuchte, Schneeflocken mit der Zunge aufzufangen, bis sie dabei über ihre eigenen Füße stolperte und in den Schnee plumpste. Aber anstatt sich wieder aufzurappeln, blieb sie liegen und machte Schneeengel. Sophie sah ihr erst belustigt zu, dann ließ sie sich rückwärts neben ihre Schwester fallen und machte neben ihr einen eigenen Schneeengel. Minutenlang lagen sie nur so nebeneinander und blickten in den Himmel, aus dem es noch immer in dichten Flocken schneite. Plötzlich griff Annie sich eine Handvoll Schnee und klatschte sie Sophie ins Gesicht. "Hey", rief sie und rappelte sich auf, während Annie schon lachend hinter einen nah gelegenden Baum flüchtete. Eine Sekunde später flog Sophies erster Schneeball gegen den Baum und eine wilde Schneeballschlacht entbrannte, die sie beide bis in den Abend draußen hielt. Dann rief ihre Mutter sie von dem Balkon ihrer Wohnung aus wieder zurück nach drinnen, um sich aufzuwärmen und heiße Schokolade zu trinken.
"Es ist genau wie in den Filmen", sagte Annie fünf Minuten später, als sie alle drei am Küchentisch saßen und an ihren Tassen nippten. "Was ist wie in den Filmen?",fragte Sophie. "Ja, alles eben", antwortete das Mädchen und lachte.

Am Ende will ich lachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt