Neunundzwanzig - Silas

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Fey zitterte, während sie die Hände in Vinurs Fell vergrub. Ich war unglaublich dankbar, dass sie den Hund hatte. "Eine Zwölfjährige, die ohne viel Federlesen einen Vampir tötet... Wo ist das menschlich?", fragte sie so leise, dass ich ihre Stimme kaum ausmachen konnte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und ihr klargemacht, das sie sehr wohl menschlich war. "Hey, ich muss nachher noch ins Altenheim, nachschauen, ob Krystian noch lebt. Dieser Laden ist so schlecht, die rufen mich nicht an, wenn er abkratzt, sondern lassen mich noch jahrelang weiter bezahlen", wechselte Reykja das Thema. "Also, wenn ihr einem OKÜP-Fascho ins Gesicht spucken wollt, der nichts mehr tun kann, als euch böse anzuschauen und ein kleines bisschen zu schimpfen... Das ist eure Chance", ergänzte sie. "Was tust du eigentlich, wenn sie ihn an Maschinen hängen?", stieg Fey auf den Themenwechsel ein. "Der Mann ist fast 90, außerdem hat er eine Patientenverfügung - den hängt keiner mehr an Maschinen", erklärte Reykja sachlich. "Er hat eine Patientenverfügung unterschrieben? Hat er sich nicht immer panisch an sein Leben geklammert?", wunderte sich meine Partnerin. "Nein und Ja. Ich habe die Verfügung gefälscht, weil er, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, sich einfrieren lassen würde, um ewig zu leben", antwortete die Magierin. "Man kann Patientenverfügungen fälschen?", wunderte ich mich. "Man kann alles fälschen", brummte Fey. "Und es ist ein verdammt billiges Altenheim", ergänzte Reykja.

"Warum machst du dir die Mühe? Fälschst eine Patientenverfügung, bezahlst ein noch so billiges Altenheim, gehst hin und schaust nach, ob er noch lebt...Du stellst sicher, dass er einen natürlichen Tod stirbt... Warum hast du ihn nicht einfach umgebracht, als du die Gelegenheit dazu hattest?", wollte ich wissen. Ein kleines Lächeln huschte über Reykjas Gesicht. "Ich weiß es nicht genau. Vielleicht, weil es zu einfach gewesen wäre, ihn einfach zu töten. Vielleicht, weil ich nicht sein wollte wie er, weil es einen Unterschied macht, ob man Jemanden im Kampf tötet oder kaltblütig ermordet. Vielleicht, weil ein Teil von mir gehofft hat, dass er mit dem Alter bereut...", zählte sie auf. "Oder alles zusammen?", schlug Fey vor. Reykja nickte leicht. "Ja, das kann sein", stimmte sie nachdenklich zu. Was auch immer dieser Krystian und dieser Oli behaupteten, diese beiden Mädchen waren keine Monster. Sie waren kampferprobt und in der Lage zu töten, aber beide hatten auch Mitgefühl und Ehre und beide hatten mehr erleiden müssen, als ein einzelner Mensch es sollte.

"Also gut, gehen wir Krystian besuchen", stimmte ich zu und auch Fey nickte zu meiner Überraschung. Reykja schien ebenfalls überrascht zu sein. Fey zuckte mit einer gespielten Leichtigkeit die Schultern. "Du bist meine Freundin, ich lasse dich damit nicht alleine. Ich gehe den Fascho mit dir besuchen", erklärte sie. Die Magierin nickte. "Gut, ich muss nur kurz altern", stimmte sie zu. Vor unseren Augen wurde aus Reykja eine alte Frau. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um die Illusion zu durchschauen. Für mich sah das Ganze aus wie ein doppelt belichtetes Foto. Gewöhnliche Sterbliche würden sie durch und durch als betagte, alte Dame ansehen. Wir verließen das Zimmer und quetschten uns in Reykjas Geländewagen. Fey beschlagnahmte den Beifahrersitz und so musste ich mit der großzügigen Rückbank vorlieb nehmen. Das billigste Altenheim auf ganz Island befand sich am anderen Ende der Stadt. Reykja parkte vor einem ausgesprochen hässlichen grauen Gebäude. "Also dann", murmelte sie und stieg zögerlich aus dem Auto. Fey und ich folgten ihr. Der ganze Parkplatz war leer und so wirkte das Geräusch der zufallenden Türen besonders laut. Eine übermüdete Pflegerin saß hinter dem Empfangstresen. "Name?", bellte sie. "Krystian Magnusson", entgegnete die Magierin. "Zimmer 273b", informierte die Pflegerin gelangweilt. "Kommt, Kinder", forderte Reykja uns auf und humpelte, in ihrer alte-Dame-Verkleidung einen Flur entlang.
"Haben die keinen Aufzug?", fragte ich, als wir auf eine Treppe einbogen. "Doch, aber der ist wahrscheinlich älter als Krystian. Ich für meinen Teil nehme da lieber die Treppe", entgegnete die Magierin sachlich und machte sich an den Aufstieg.

Vor der Tür von 273b hielt sie an. Sie holte tief Luft und rauschte dann ohne zu klopfen ins Zimmer. Im Bett am Fenster lag ein blasser, alter Mann, der jetzt mühsam den Kopf hob. "Du bist also immer noch nicht tot", begrüßte sie ihn. "Enttäuscht, Reykja?", fragte der Alte. "Ein bisschen, immerhin bezahle ich den Laden hier", gab sie zu. "Der Laden hier ist scheiße", gab Krystian zu bedenken. "Für dich nur das Schlechteste", säuselte Reykja. "Hast du deswegen Will dabei? Um mir eins auszuwischen? Hasst du mich so sehr?", fragte er und deutete auf mich. "Ich hasse dich wirklich ziemlich dolle... Kein Zweifel, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich auch Will anschleppen, nur um dir eins auszuwischen. Das hier ist allerdings sein Sohn. Will hat mittlerweile auch schon die ersten grauen Haare", erklärte sie. "Bist du seine Mutter?", wollte der alte Mann wissen und ich konnte die Traurigkeit in seiner Stimme hören. Reykja schüttelte den Kopf. "Ich weiß, dein Hirn ist mittlerweile ziemlich nahe am Totalausfall. Aber du bist auch nicht dement. Erinnerst du dich an Caroline Dubois? Erinnerst du dich daran, dass Will sie vor etwa 20 Jahren geheiratet hat? Silas ist nicht mein Sohn!", zischte sie. "Ach ja, richtig... Caroline... Das war doch diese verwöhnte Tussi aus Paris... Och Süße, mit der hat er dich ersetzt?"Die Stimme des alten Mannes triefte vor Spott. Ich überlegte, ob ich nicht etwas unternehmen sollte. Immerhin hatte er gerade meine Mutter beleidigt. Allerdings beschrieb 'verwöhnte Tussi' sie ziemlich treffend. Reykja hob spöttisch eine Augenbraue. "Tja, Reykja Jóhannsdóttir, auch du bekommst, was du verdienst", stellte er fest. Fey und ich runzelten die Stirn. "Karma ist 'ne lustige Sache, nicht war?", entgegnete Reykja ruhig. "Karma ist mir egal. Nur Gott kann über mich richten. Und Gott verachtet Wesen wie dich. Ihr seid nicht natürlich, ihr seid nicht Gott gewollt und euch zu vernichten ist meine göttliche Pflicht", brummte der Alte und zum ersten Mal wirkte er voll und ganz wie ein OKÜP-Spinner. "Gute Güte, ich sollte dich wirklich auf Demenz testen lassen. Silas, Fey, wir gehen", entschied Reykja und machte schwungvoll kehrt. "Ihr alle werdet immer Monster bleiben", krächzte der Alte. "Und du wirst in diesem Altenheim bleiben, bis du irgendwann einfach tot bist und dann wirst du sehen, wie Gott über dich und deine Morde richtet", ergänzte Reykja und schlug die Zimmertür hinter sich zu.

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