Obwohl mein Weg nach Hause normalerweise nicht so lang war, hatte ich wegen des Gespräches mit dem Jungen, von dem ich immer noch nicht den Namen kannte, einiges an Zeit verloren und kam gerade noch rechtzeitig, um meinen Bruder Ryan auf der Treppe abzufangen. Unsere Wohnung lag im ersten Stock und momentan war der Aufzug defekt. Da ich mich aber nicht unbedingt als unsportlich bezeichnen würde und sonst sowieso nicht genug Zeit hatte, um Sport zu machen, kam es mir eher Recht, dass ich dadurch täglich ein bisschen Training machen musste. Und es war ja wirklich nicht anstrengend. Außer man war gerade unten an der Haustür angekommen und merkte dann, dass man etwas in der Wohnung vergessen hatte und deswegen wieder hoch und runter joggen musste. Und ja, ich spreche aus mehrfacher Erfahrung.
"Hey, wo gehst du hin?" fing ich meinen Bruder ab, der bis jetzt noch auf sein Handy geschaut hatte, während er im Schneckentempo die Treppe herunter ging. Vor Schreck ließ er fast das Handy fallen.
"Auch schön dich zu treffen, Schwesterherz." grummelte er. "Ich gehe zu Grace." antwortete er mir.
Grace war seine feste Freundin. Sie hatte schulterlange fast schwarze Haare, hellblaue Augen und war eher zart und klein. Aber wenn man sie mal richtig kannte, war sie gar nicht so schüchtern wie sie wirkte, sondern war ziemlich lustig und auch schlagfertig. Ich war froh, dass sie und Ryan sich gefunden hatten.
"Sehen wir uns heute Abend nochmal?" fragte ich noch, bevor mein Bruder vor mir fliehen konnte.
"Eher nicht, aber morgen Nachmittag dann wieder. Bis dahin musst du noch einkaufen gehen, der Kühlschrank ist leer." sagte Ryan und eilte dann den Rest der Treppe hinunter, um das Haus zu verlassen.
Ich seufzte und stapfte zu unserer Wohnungstür. Ryan leerte meistens den gesamten Kühlschrank und auch so ziemlich alles andere essbare und schaffte es jedes Mal wieder, dass trotzdem ich einkaufen ging. Immerhin musste ich nicht alles von meinem Geld bezahlen, sondern wir hatten uns das alles gut und fair eingeteilt. Um an Geld zu kommen kellnerte ich in einem eher ruhigen Café und babysittete auch hin und wieder den kleinen Jungen unserer Nachbarin. Für mehr hatte ich neben der Uni nicht Zeit und ehrlich gesagt war ich auch nicht der Mensch, der immer etwas tun musste. Ich lag auch gerne einfach mal ungewaschen auf der Couch und sah in Schlabberklamotten fern.
Es war früher Nachmittag, aber bis jetzt hatte ich noch nichts Richtiges gegessen, nur kleine Snacks aus der Cafeteria. Deswegen bestellte ich mir schnell eine Pizza und empfing sie kurze Zeit später noch warm von dem Lieferservice. Genüsslich verschlang ich sie restlos an dem viel zu großen Esstisch für eine Person. Wenn Ryan da war, fiel das nicht so auf, aber durch den großen Tisch merkte ich erst Recht, wie alleine ich doch war. Meine einzige richtig gute Freundin, die auch hier in der Nähe wohnte und auf meine Uni ging, war Melissa, obwohl ich eigentlich ziemlich schnell Kontakte knüpfen konnte. Natürlich hatte ich noch andere, alte Schul-Freunde und ich hatte mit ihnen sogar noch relativ viel Kontakt, aber sie wohnten teilweise ziemlich weit weg und das war nicht wirklich von Vorteil. Einen festen Freund hatte ich auch nicht.
Und das alles nur wegen damals. Vielleicht übertrieb ich, aber ich war noch ziemlich jung gewesen und es gab mehrere Faktoren, die sich zusammen spielten und das war einfach alles zu viel für mich gewesen. Was genau passiert war, wussten nur Melissa und Ryan. Meine anderen Freunde und meine Familie wussten auch Bescheid, aber keine Details. Und sonst wusste auch meine ganze damalige Jahrgangsstufe grob von dem Vorfall. Damals war ich tagelang nicht in die Schule gegangen und als ich wieder gekommen war, wurde ich teilweise trotzdem noch mitleidig oder auch so angesehen, als wäre ich absolut lächerlich. Sollten sie doch denken was sie wollten, heute hatten sie das wahrscheinlich sowieso schon wieder alles vergessen, im Gegensatz zu mir.
Aber ich sollte nicht daran denken, sonst wurde ich nur wieder wütend, denn mittlerweile war meine Trauer in Wut übergegangen.
Ich sah mich in der Küche um und stellte fest, dass man ruhig mal wieder richtig putzen konnte. Und wenn nicht jetzt, wann dann?

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Fake Relationship
RomanceWie jedes Jahr steht dem jungen Student Jayden ein 3-wöchiger Besuch seiner Eltern in Australien bevor. Doch um diesmal gleich die ständigen Verkupplungsversuche von ihnen zu umgehen, behauptet er eine Freundin zu haben. Nur leider gibt es diese nic...