S E C H S

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Am morgigen Tag versuchte ich mir die Zeit zu vertreiben und auf andere Gedanken zu kommen. Im stehen massierte ich mir meine Schläfe, kniff meine Augen zu, während ich mit der anderen Hand mein braunes Lederportemonnaie an meine weiße Bluse hielt und ich es kaum schaffte mich aus dieser Welt zu verabschieden. Emma war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, woraufhin ich heute morgen gleich deswegen Steve und seine Eltern anrief, ebenso meine. Das Daueranrufen hatte allerdings wenig gebracht, sie war bei niemanden von dem ich die Nummer hatte, ebenso Emmas beste Freundin Katherine, sie wusste immer wo Emma war, außer dieses Mal.

Ich stand mitten auf dem Trödelmarkt und sah mich nach Bildern für meine trostlosen, als auch einsamen Wände um, ich liebte es, wenn ich meine Wohnung mit Malereien und Kunstwerken jeglicher Art ausschmücken durfte. Überall waren etliche von Ständen, die nur mit einem schlichten weißen Tuch geschützt waren. Das einfache Holzgestell begann zu klappern, näherte man sich ihm nur auf einen Millimeter. Ich sah nach vorne, die ganze gepflasterte Promenade war voll von ihnen, voll von diesen Meisterwerken. Tausende von Künstlern präsentierten hier ihre Arbeiten und hofften auf den großen Durchbruch, was ich jedem gönnen würde. Alle hatten sie Visitenkarten parat, bereit alles aufzugeben, nur für diesen einen Job, diese eine Kariere. Meine Haare lagen ganz locker auf meinen zierlichen Schultern und ich ging weiter. Stand für Stand klapperte ich ab, verhandelte hier und dort, kaufte jenes und sah anschließend immer auf mein Handy. Ich hatte keine neue Nachricht. 

Es war zwölf Uhr, als ich wieder zu Hause eintraf und auch dort keine Emma antraf, die letzte Hoffnung war gestorben. „Eva?“, fragte ich und stellte meine errungenen Schätze neben die Treppe, während ich mir schnaufend auf den Rücken fasste.

„Ja?“, rief eine sanfte Stimme von oben, die sogleich lauter wurde. Eva ging an das obrige Geländer, drückte ihren Kopf über das Holzgestell, wobei ihre langen braunen Haare hinunter hangen und sah mich an.

„War Emma schon hier oder hat sie sich gemeldet?“, erkundigte ich mich und hoffte auf eine gut klingende Antwort, die allen Zweifel aus der Welt schaffen würde. Ich blickte nach oben und musterte ihre Akrobatik mit hochgezogener Augenbraue, Eva stellte sich normal hin und lehnte nun ihre Arme auf. 

„Nein, ich habe noch nichts gehört.“, verwundert blickte sie mich an und hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck.

„Wie?“, fragte ich unglaubwürdig. „Sie war noch nicht zu Hause?“, meine Stimme betonte das nicht und ich ging die Treppen hinauf, eine qualvolle Szene spielte sich in meinem Kopf ab, ich verdrängte sie. Ich trat fassungslos vor Eva und sah sie an. Das laute prasseln des Regens übertönte unser Atmen.

„Nein, wie gesagt.“, sie machte große Augen und zuckte kleinlich mit den Schultern, hob die hochgezogenen Hände, um sich damit raus zu reden. Ich schluckte und ging langsam in Emmas Zimmer, die Tür gab einen quitschenden Laut von sich.

„Es tut mir Leid Emma.“, dachte ich schuldbewusst, holte einmal tief Luft und griff unter ihr ordentlich gemachtes Bett. Ihr schwarz weißes Tagebuch glitzerte im Licht der hereinscheinenden, warmen Sonnenstrahlen, der Regen hatte aufgehört.
Ich überblätterte die ersten Seiten und ging zur letzten, mit Schrift besetzten, Verewigung. Dieser Eintrag stammte vom letzten Tag ihres Verschwindens, keine Anmerkung, nichts. Es ging die gesamten letzten Seiten und Zeilen nur um Jonahs Party, ihre Gefühle für ihn und die bezaubernde Party in der Ford Lane am Farlows Lake. Ich machte mir Vorwürfe, ich hätte sie gehen lassen sollen und mit ihr besprochen, wann ich sie hätte abholen können. Ich setzte mich auf ihr Bett und legte beide Hände auf meine Augen und weinte los, die Ellenbogen in meine Oberschenkel gestützt. Wo war meine Emma? Was ist mit ihr passiert? Sie darf nicht, ich wischte mir die Tränen weg und stoppte. Ich wollte es nicht aussprechen, es konnte nicht sein. Eine Träne nach der anderen rannten über meine Wange, als ich mir die Vorwurfsrede von Rosie in Erinnerung rief. Ich sei eine schlechte Mutter, sowas wie mich hätte man früher verbrannt, ich hätte nur eine Aufgabe gehabt. Ich schluckte und blickte auf, vor mir erhob sich ein Bild von Konfuzius, was Emma sich hatte an die Wand malen lassen. Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten. Ich prägte mir das weiße Schriftbild genau ein und stand entschlossen auf, ich kämpfe um meine Tochter. 
Ich schluckte ein zweites Mal, als ich Eva sagte, dass ich auf die Polizeiwache fahren und eine Vermisstenanzeige aufgeben würde. Sie bat mich mitkommen zu dürfen und nach einigem überlegen sagte ich zu. Eva war Emmas Schwester, sie seien ein Herz und eine Seele, man trennt sie nicht, das habe ich selbst gesagt, also muss ich mich auch dran halten.

Wir saßen im hellen Hinterzimmer der Polizeidienststelle, als mich die, in schwarz gekleidete, Polizistin ansprach. „Ist das ihre Tochter?“, fragte sie und nahm das Bild aus meinem Portemonnaie an sich, während ich stillschweigend nickte. „Sehr schön.“, sagte sie und zeigte es ihrem Kollegen, der es daraufhin wegbrachte. „Also das Bild an sich, meine ich.“, entschuldigte sie sich und fasste sich beklemmt am Arm.

Kinder sterben leiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt