E L F

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Der dichte Nebel, der nur von einigen leichten Sonnenstrahlen durchzogen war, senkte sich sanft auf die Erde unter meinen Füßen. Das nasse Gras kitzelte meine nackten Beine und der alte Baum, jener, der neben mir seine Pracht entfaltete, spendete mir Geborgenheit. Es müsste gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, als ich wieder anfing, das Leben zu spüren.

Ich starrte unkontrolliert und starr gerade aus, während ich meinen Gefühlen keine Grenzen bat. Träne für Träne kullerte meine Wange hinunter und ich wollte die letzten Tage und Geschehnisse endgültig hinter mir lassen. Ich versuchte zu entspannen, ich versuchte alles auf mich zu kommen zu lassen. Meine Atmung kontrollierte sich langsam und mit meinem zittrigen Körper versuchte ich mich an einer Yoga Übung. Meine Füße streckte ich, meine Arme hob ich und meinen Körper senkte ich.

Langsam, aber mit voller Entschlossenheit verschwand der Nebel und die güldene, leicht orangefarbige Sonne schien mir ins Gesicht. Inzwischen saß ich auf dem Boden und presste meine Hände, vor meinen Körper, dicht aneinander. Für einen kurzen Augenblick schien sich meine Welt in etwas tolles, etwas unendlich, unglaubliches verwandeln. Für einen Augenblick ließ ich alles vergessen, ließ ich den Schmerz um Emma vergessen, ließ die Sorge um das Sorgerecht vergessen und ließ die Welt um mich herum stillstehen. Ich erinnerte mich an den gestrigen Tag und an das Gespräch mit Alice. Ich überlegte genau. Sie hatte damals einen Fall verloren, den einzigen in ihrer Anwaltskarriere, ihre Stimme wurde ganz tief bei diesem Gedanken. Es handelte sich um eine gewisse Lancaster, deren Kind auch verstorben war. Aber hätte Frau Lancaster Alice wirklich angelogen? Ich überlegte noch weiter und kam langsam zum Entschluss, dass ich mich nach ihr erkundigen sollte. Auch die Gedanken, die meinen mussten, dass es sich hierbei wirklich um eine verrückte Kindermörderin handeln konnte, ließ ich auf mich einwirken.

Ohne ein Geräusch zu verursachen verließ ich den stillen Ort um gemütlich zu meinem Haus zu gehen. Ich streifte mit meinen Füßen wieder, durch das mit Tau bedeckte Gras und hielt meine Sandalen in den Händen. Mein weißes Top und meine hochgekrempelte Hose spendeten mir etwas Schutz, während ich durch die hohen Bäume streifte. Rechts von mir lag der Jacobssee und funkelte im Sonnenlicht, ehe ich wieder an Emma dachte, den Gedanken aber verdrängte.

Ich fand mich an meinem Computer wieder, wo ich Kaffee schlürfend saß und das große „world wide web“ nach ‚Fall Kathy Lancaster‘ unbarmherzig durchsuchte. Vor mir erschien eine Fülle von Zeitungsartikeln, Bildern und sogar Videos. Unsicher klickte ich auf eine Aufzeichnung und eine Reporterin des BBC erschien vor mir. Ihre blonden langen Haare ließen mich wieder an meine Arbeit und die damit verbundenen Sekretärinnen denken. Ich blickte wieder auf die Genesungswünsche und sah den spärlichen Brief meiner Vorgesetzten. Mit einem angewiderten Blick erinnerte ich mich an die Situation, wo mich mein Chef zur Sau gemacht hat. Es ist zwar makaber, aber jetzt habe ich meinen Urlaub.

Ich klickte auf Replay um das Video erneut zu sehen, ich konnte es kaum fassen. Es tat sich wieder die blonde Reporterin auf und sprach im selben Tonfall die selben Worte. Im Hintergrund sah ich, wie eine schwarzhaarige Frau mit weißer Hautfarbe, in Handschellen voranging und hinter ihr Alice. Die Reporterin wollte, wie so viele andere auch, mit einen von beiden sprechen und stichelte sie an. „Mrs. Claire, wie können sie eine Kindermörderin vertreten?“, sprach sie in ihr Mikro.

Kurz bevor Alice und Mrs. Lancaster in das Justizgebäude treten wollten, kamen wieder mehrere Reporter auf sie zu und bequatschten sie. „Glauben sie, dass sie den Fall gewinnen, Mrs. Curtis?“, „Was haben sie mit ihrer Tochter gemacht, Mrs. Lancaster?“, „Mrs. Lancaster, sind sie eine Kindermörderin?“ und auch die letzte Frage hatte die Kamera mit Bild und Ton aufgefasst: „Schadet das nicht ihrer Karriere, Mrs. Curtis?“

Bei dieser letzten Frage drehte sich Alice gelassen um, nahm sich ein Mikrofon mit einem blauen Kästchen und schob ihre Brille wieder auf die Nase. „Ich kann es nicht fassen, was man mir hier an den Kopf wirft. Schämen sie sich nicht? Wenn ich sie sehe, wie sie verzweifelt nach Vorwürfen und neuen Schlagzeilen suchen, dann schadet das wohl eher ihrer Karriere.“, stumm verließ sie den Vorplatz. Ich drückte auf zwei Balken, die das Video stoppten.

Ich drehte mich wieder zum Video zurück, nachdem ich mir kurz Zeit für mich selbst gegeben hatte. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich nicht glauben, wie erbarmungslos Journalisten heutzutage waren, ich konnte es nicht wahrhaben. Ich überlegte, ob diese gefräßigen Geier auch bei meiner Verhandlung so herumlungern würden. Diesen Gedanken verwarf ich schnell, denn darüber wollte ich nicht nachdenken und mir ein genaueres Bild vorstellen.

Ich klickte auf das Dreieck und die Aufzeichnung wurde fortgesetzt. Es gab einen schwarzen Cut und in der nächsten Szene sah man, wie Alice und ihre Mandantin aus dem sandsteinfarbenen Gebäude kamen und die Reporter ignorierten. Nach kurzer Zeit trat Alice, die in ihrem fabelhaften blauen Anzug und weißem Hemd zur Verhandlung kam, erneut an ein Mikrofon, dies war diesmal rot. „Ich sage es ihnen nicht noch einmal, ich verklage sie.“, diesmal war ihre Ansprache weniger Nervenberaubend, als die davorige. Im Hintergrund sah man, den Kopf senkend, Mrs. Lancaster, die in ein Wagen stieg und davon fuhr.

Mein Drang Mrs. Lancaster ausfindig zu machen, wuchs. Ich musste erfahren, was passiert ist. Meine Gedanken kochten und verliefen im Sand. Sie waren auf Hochleistung und verschwanden wieder, der perfekte Zeitpunkt für noch einen Kaffee.

Während ich in meiner Küche auf meinen Kaffee wartete, dachte ich an Alice. Sollte ich ihr sagen, dass ich mich auf die Suche nach Mrs. Lancaster begab? Das klang schon wieder so beschlossen, noch wusste ich es ja noch gar nicht. Aber was wäre wenn? Sollte ich ihr sagen, dass ich an ihren Fähigkeiten zweifeln würde? Andererseits würde ich ihr vielleicht so auch zeigen, dass sie doch noch keinen Fall verloren hat, sollte rauskommen, dass Mrs. Lancaster unschuldig war.

Mit der Hand in der Hüfte und in der anderen die bunte Kaffeetasse, blickte ich auf unsere Kühlschranktür. Nach Emmas Tod hatte ich mir ein Bild von ihr angeklebt, um sie nicht zu vergessen. Die Gedanken an meine Erstgeborene quälen mich immernoch, aber ich kann nichts mehr dagegen tun, dass wusste ich. Mittlerweile dachte ich auch, dass ich irgendwann wieder lachen und bewusst lächeln konnte, es war mir nicht mehr so fremd, wie an jenem Tag.

„Hi Alice.“, sprach ich in mein graues Telefon mit den Gummiknöpfen und den abgeblätterten Ziffern. 

Kinder sterben leiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt