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Die Worte wiegen schwer in der Luft, werden vom Wind zwischen ihr und mir hin und her geweht, als könnten sie sich nicht mehr entscheiden, wem sie gehörten.

„Es tut mir Leid", sagt sie. Ihre Stimme ist rau, fast lautlos. Ein angehaltener Atemzug der endlich freigelassen wird.

Ich blicke sie an. Ihre helle Haut wirkt blass im schwachen Licht des Mondes.

„Ich weiß", sage ich, obwohl ich denke: Nein, ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht. Ich verstehe es nicht.

„Wieso?", füge ich deshalb nach kurzem Zögern hinzu.

„Wieso was?"

„Wieso hast du mich ignoriert? Wieso bist du plötzlich verschwunden? Wieso hast du mir nie gesagt, dass du... Dass ich... Dass..." Ich stocke. Ich weiß nicht, was ich sagen will oder wie ich es sagen will. Es ist zu viel. Zu lange her. Zu tief in mir vergraben. Ich will nicht, dass es wieder hochkommt.

„Es war zu viel", antwortet sie nach einer Ewigkeit, in der ich sie anstarre und sie regungslos auf ihre Hände blickt.

„Was?"

„Du. Ich. Wir. Beziehung. Uni. Arbeit. Ich konnte dir nicht die Zeit und Energie schenken, die du verdient hättest. Und ich habe mich eingeengt gefühlt, ich wusste nicht mehr, wer ich war und was ich wollte und fühlte und dann warst du plötzlich da und immer so positiv, immer so lächelnd, immer bereit, alles zurechtzubiegen. Zu reden. Dabei wollte ich nicht reden, ich wollte einfach nur endlich mal Zeit für mich haben. Mit mir selbst klarkommen. Du warst zu viel."

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Also greife ich nach ihrer Hand, streiche mit meinem dunklen Daumen über ihre zarte Haut.

„Okay", sage ich und wundere mich darüber, wie das Schiff sich so schnell gewendet hat. Gerade war ich noch diejenige, die getröstet werden wollte, weil Ina mich verletzt hat und jetzt bin ich plötzlich diejenige, die ihre Hand hält.

„Danke", sagt sie und sieht mich an.

Es gibt immer zwei Seiten einer Geschichte. Alle Seiten spüren den Schmerz.

„Wie läuft es bei dir denn im Moment?", wechsle ich wieder zu Smalltalk.

„Besser", sagt sie und rückt ein Stück näher. Wir sitzen uns im Schneidersitz gegenüber. Wie früher, als wir stundenlang auf meinem Bett saßen und einfach nur geredet haben. Und gelacht. So viel gelacht.

Wo ist diese Leichtigkeit hin?

„Ich hab einen Job für den Sommer gefunden und ich glaube ich habe die meisten Prüfungen bestanden. Aber ich glaube ich muss mir selbst noch etwas beweisen und du kannst mir dabei vielleicht helfen."

„Ja?"

Ina rückt ein weiteres Stück nach vorn, sodass sich unsere Knie berühren und umfasst mit beiden Händen meine Schultern, lehnt sich nach vorn und...

Der Knoten in meinem Inneren explodiert. Ich bin frei. Ein Vogel, der über den nächtlichen See-Schrägstrich-Teich fliegt. Eine Feuerwerkrakete, deren rote Funken die Nacht erhellen. E.T., der endlich sein Heimatschiff erreicht.

Ich bin ein Blatt, das durch die Lüfte gewirbelt wird, ein Kind, das zum ersten Mal rennt, die Zunge, die den ersten Bissen eines Schokoladenkuchens verkostet, die Finger, die den Liebesbrief entfalten, die Augen, die zum ersten Mal das Licht der Welt erblicken.

WiedersehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt