#3 Verrat

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Am ersten Schultag nach den Ferien war alles anders. Es war das gleiche Gebäude, die selben Menschen, die altbekannten Räume und Gesichter. Es lag an mir. Ich war anders.

Auf der Busfahrt hat keiner mit mir geredet. Katharina saß schweigend neben mir, aus ihren Kopfhörern dröhnte irgendein Radio-Hit, beiläufig und nichtssagend, aber so laut, dass ich ihn klar und deutlich verstehen konnte. Ich war froh über die Stille. Ich lehnte meinen schweren Kopf an das kalte Fensterglas und schloss die Augen. Für einen Moment war alles normal. Doch als wir ausstiegen schlug mir die Kälte ins Gesicht und holte mich zurück in die Realität. Du schaffst das schon, Hase. Ich bin bei dir. Du bist nicht hier. Auf dem Weg zum Gymnasium bot sich mir das übliche Szenario. Diejenigen, die oft genug sitzen blieben und deshalb schon alleine Auto fahren durften, parkten schief in die engen Lücken ein. Die jüngere Generation jagte sich auf dem Pausenhof, ein "Vorsicht, Glatteis!"-schreiender Lehrer keuchte ihnen hinterher. Auf der schmalen Allee gegenüber meiner Schule, die eine Verbindung zwischen Haltestelle und Realschule bietet, standen die üblichen Verdächtigen und genossen ihr "Frühstück". Deshalb wird der Weg liebevoll als Raucherpfad bezeichnet oder wie ich ihn nenne, Fickt-Euch-Allee. Mit meinen Gedanken noch bei meinem Wortwitz bemerkte ich garnicht, dass wir bereits am Klassenzimmer angekommen waren. Die erste Stunde auf dem Plan war Deutsch und für die meisten war das der perfekte Start in die Woche für einen Montagmorgen, da man ganze 45 Minuten Schlaf extra bekam. Ich mochte Deutsch. Geschichten faszinierten mich schon immer. Philosophie, Gedichte, Monologe. All diese Autoren waren in meinen Augen gefangene Seelen, die mit ihren Gedanken nirgends Anschluss fanden, sodass sie sie aufschreiben mussten und 1000 Jahre später wurden sie zufällig veröffentlicht. Doch zu meinem stillen Entsetzen sollte es keine normale Unterrichtsstunde werden.

Als wir den Raum betraten versammelten sich vorne am Lehrerpult Direktor Kahn, unser Klassenlehrer Maier, die Deutschlehrerin Seufert und ein weiterer Mann, den ich nicht identifizieren konnte, da er mit dem Rücken zu mir stand. Ich hätte schwören können, dass Herr Kahn kurz aufschaute, als ich am Pult vorbeiging, aber wenn, dann ließ er sich nichts anmerken. Er ist ein stolzer, seriöser Mann mit grauen Haaren und kariertem Hemd, dem die Schule nicht weniger als alles bedeutet. Da wir notorisch unpünktlich sind und der Bus aufgrund der glatten Straßen nicht besonders schnell fahren konnte, klingelte auch schon die Glocke, um fröhlich den Unterrichtsbeginn zu verkünden. Fröhlich, das ich nicht lache. Das Getuschel in den Reihen verstummte und die Erwachsenen bauten sich vor uns in einer Reihe auf wie bei der Armee. Kurz dachte ich darüber nach wie es wäre, sie nach der Größe zu ordnen, als Herr Kahn das Wort ergriff:

"Liebe Schülerinnen und Schüler der elften Klasse, ich hoffe Sie haben die Weihnachtszeit genossen und sich für das neue Jahr erholen können, soweit es die Umstände zugelassen haben." Dabei fiel sein Blick auf mich. Ich dachte nicht, dass sich der Direx für mich so interessierte, aber unter der Lehrerschaft war Sebi's Beziehung mit mir kein Geheimnis und ich kann mir vorstellen, das Frau Seufert vor dem Unterricht geplaudert hat. "Auch ich war von dem tragischen Ereignis zu Ferienbeginn tief erschüttert. Da der Betroffene in Ihrer Klasse war, wollte ich persönlich bei Ihnen mein Beileid aussprechen und den Trauernden mein Mitgefühl verkünden. Ein Verlust kann jemanden ziemlich aus der Bahn bringen...", bla bla bla. So sehr ich es mir auch wünschte, er würde mit dem Gelaber nicht so schnell aufhören. Stur versuchte ich, den Blickkontakt zu vermeiden und so wenig wie möglich seiner Rede zuzuhören. Ich blendete ihn aus und fokussierte Augen und Ohren auf die Uhr an der Wand über ihn. 5 Minuten waren vergangen, dann 7, dann 10. "Trotz allem hoffe ich, dass dieser Rückschlag Ihrer schulischen Laufbahn und somit Ihrer Karriere und beruflichen Zukunft nicht im Weg stehen wird. Und um es Ihnen zu ermöglichen, das Geschehene zu verarbeiten, hat der Schulrat beschlossen, einen Arbeitskreis für den Umgang mit Verlust und die Vorbeugung von Depressionen zu gründen." Das hat er nicht wirklich gesagt. "Der junge Mann neben mir ist Herr Thom. Herr Thom ist nach meiner Bitte von der Universität für Psychologie und Psychotherapie an unsere Schule gewechselt. Sein Vater und ich waren damals an der Hochschule in einem Jahrgang." Das hat er nicht gesagt. "Jedenfalls wird Herr Thom, zusammen mit einer engagierten Mitschülerin, die sich freundlicherweise freiwillig gemeldet hat, diese Gruppe leiten. Katharina, komm doch bitte vor, um die Einzelheiten zu erläutern." Das ganze passierte jetzt nicht wirklich. Geschockt starrte ich meine Freundin an, die mir einen entschuldigenden Blick zuwarf, bevor sie sich vor die Klasse stellte. Ich traute meinen Augen nicht. Das ist Hochverrat, formte ich mit meinen Lippen und ich wusste sie hat mich verstanden.

"Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, liebe Klassenkameraden, liebe Freunde. Wie für euch alle war Sebastian auch für mich ein guter Freund. Und wie wir alle habe auch ich in den vergangenen Wochen getrauert und gelitten. Doch ich weiß ganz genau: Könnte Sebi uns jetzt sehen, würde er nicht wollen, dass wir weiter leiden und uns unser Leben wegen seinem Unfall verbauen." Sie hat Recht. "Also lasst uns die Initiative ergreifen und die Chance nutzen, von unseren Lehrern professionelle Hilfe an die Seite gestellt bekommen zu haben, um richtig mit unserem Verlust umzugehen. Alles weitere erklärt euch nun Herr Maier."

Starr auf den Boden blickend setzte sich Katharina zurück an unseren Tisch. Sie musste garnicht versuchen mir irgendetwas zu erklären oder sich zu entschuldigen. Sie wusste genau, dass es keinen Sinn machen würde. Ich würde sie mit dem Arsch nicht ansehen, geschweige denn ihr zuhören. Das wird sie noch bereuen.

"Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler. Die Teilnahme an der AK ist nicht nur für alle Elftklässler herzlichst empfohlen, sondern auch verpflichtend. Wir wollen verhindern, dass sich manche aufgrund ihrer Trauer vielleicht...", er schaute mich an,"..isolieren. Die Stunden werden aufgeteilt, es gibt Gruppensitzungen, die einmal wöchentlich die ersten zwei Stunden Montags stattfinden, und in Ausnahmefällen vielleicht auch einzelne Sprechstunden, je nachdem wie sich das Ganze entwickelt. Die erste Gruppensitzung wäre folglich kommenden Montag. Bevor wir mit der AK richtig beginnen, möchte Herr Thom mit jedem von euch ein kurzes Gespräch führen."

Herr Thom: "Da ich euch alle noch nicht kenne erhoffe ich dadurch, mir einen kleinen Überblick zu verschaffen und die Lage richtig einschätzen zu können." Er redet mit uns wie ein Architekt und wir sind der Bauplan. Jetzt hör ihm doch mal zu. "Keine Sorge, das Ganze wird total zwanglos, ich möchte nur mit euch ein bisschen quatschen." Er grinste uns schüchtern an und zeigte damit seine zahnpasta-weißen Zähne. Ich schwöre bei Gott, kein Wort werde ich mit diesem Möchtegern-Model reden.

Doch, das wirst du. Halt die Klappe, Sebi.

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Überarbeitet ✔️

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