#5 Pause

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So schnell ich konnte, ohne dabei gehetzt auszusehen, verließ ich das "Horror-Zimmer", wie ich es getauft habe. In meiner Eile überrannte ich fast eine erwartungsvolle Katharina, die wohl schon vor dem Raum auf der Lauer lag. "Und, wie ist es gelaufen?" "Wir hatten einen Deal." "Du kannst mir doch sagen, was passiert ist." "Ich kann dir zeigen, was passieren wird, wenn du mich nicht sofort in Ruhe lässt." Ich funkelte sie an. Ich war wütend. Auf Herrn Thom, der meinte er müsste sich mit mir anfreunden, auf Ka, die ihn bei seinem Vorhaben auch noch unterstütze, auf Niklas, der das Auto nicht unter Kontrolle halten konnte und auf mich selbst. Ich konnte nicht verstehen, warum mir das Geschwafel dieses daher gelaufenen Spasten nicht einfach am Arsch vorbei geht. Katharina schaute mich entschuldigend an.

"Soll ich dir später Physik erklären? Ich kann zu dir nach hause kommen, wir könnten Hausaufgaben machen und danach vielleicht Film schauen." "Ich hab keine Probleme in Physik." "Aber du hast doch gesagt, dass..", mitten im Satz hielt sie inne. Ich denke, sie hat es begriffen. Nach einer Weile fragte sie mich, ob wir in die Mensa gehen sollen. "Hab keinen Hunger." "Gut, dann hole ich mir eben was. Treffen wir uns in der Aula?" "Ich glaub ich gehe raus, hier drin ist irgendwie dicke Luft." Katharina sah mich erst fragend an, nickte dann aber und machte sich auf den Weg Richtung Essen. Ich holte schnell meine Jacke, die ich natürlich im Physik-Saal vergessen hatte, und lief Richtung Ausgang. Kurz vor der Tür hielt mich ein Mädchen aus meiner Parallelklasse, Sarah hieß sie, am Arm fest und zog mich ein Stück zur Seite. "Heey Olivia, na, wie gehts dir denn so? Wir wollten nach der Schule in die Stadt zum Shoppen und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mitkommst?" Was will die Alte denn jetzt von mir. Ich glaube wir hatten in den letzten 6 Jahren nicht mehr als 3 Worte gewechselt und jetzt auf einmal interessiert sie mein Gemütszustand? Ich bemerkte, dass uns ein Paar Schüler aus den unteren Klassen beobachteten. Sarah war ziemlich beliebt an der Schule, eine lebendig gewordene Barbie, die kein Fleisch isst, aber Handtaschen aus Leder trägt, weil es zu schade wäre, sie wegzuschmeißen. Ich hab eigentlich nichts gegen sie, da sie mir nie was getan hat. Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn sich Menschen offensichtlich bewusst sind, wie toll sie Aussehen und wie sie damit auf andere wirken. Leider lassen sich viel zu viele vom Äußeren beeindrucken und so war es auch in diesem Fall so, dass ich für andere 10% interessanter wurde, nur weil sie mich angesprochen hat. "Und, was sagst du?" "Äh, Sarah, das ist total lieb gemeint, aber ich muss nach der Schule nach hause, meine Mutter hat einen Arzt-Termin." Man, ich war mal besser darin, als es mir noch nicht egal war, ob die Ausrede auffliegen würde oder nicht. "Ooh, wie schade. Naja, dann beim nächsten Mal." Und ich freute mich schon, dass ich dieses unangenehme Gespräch so schnell überstanden hatte, als sie noch hinzufügte: "Achja und es tut mir leid, wegen Sebi. Er war wirklich ein toller Kerl. Denk dran Kopf hoch, sonst fällt die Krone." Sie umarmte mich (!?) und stolzierte zurück nach drinnen, wo ihr Tussi-Team schon auf sie wartete. Was war das denn bitte? Sie tut so, als hätte ich eine 5 in Mathe kassiert. Verwirrt lief ich nach draußen in die Kälte. Erstmal den Kopf frei bekommen.

Draußen angekommen befreite ich halbherzig eine kleine Fläche der Tischtennisplatte vom Schnee, um meinen Schal darüber zu legen und mich darauf zu setzen.
Ich kann Sarah nicht ausstehen. Ich will, dass du dich von ihr fernhälst. Kann ein Toter mir etwas vorschreiben? Ich kann sie auch nicht ausstehen. Keine Sorge, ich hab nicht vor mit ihr abzuhängen.
Der Pausenhof war so gut wie leer gefegt. Kein Wunder bei diesem Sauwetter. Da die Büsche kahl waren, hatte ich freien Blick auf das Gelände. Und so entgingen mir auch nicht die traurigen Gestalten auf dem Raucherpfad. Mit zitternden Händen hielten sie sich an ihren Zigaretten fest, jeden Zug genießend. Als ob das schmeckt. Sie unterhielten sich angeregt, über was konnte ich beim besten Willen nicht erahnen. Mit dabei waren Joshua, Markus, Svenja und, wie nicht anders zu erwarten, Jonas. Ich kannte sie nur vom Sehen, sie waren eine Klasse über uns und jeder weiß, die Älteren sind Tabu. Man kann über sie sagen was man will. Das Rauchen scheiße ist, das sie Außenseiter sind. Aber im Endeffekt sind sie nie allein. Sie haben sich eine Gruppe aufgebaut, zwar nur zu viert, aber wieso sollten sie nicht zufrieden sein, sie haben ja sich. Sie haben vielleicht nicht viel gemeinsam, aber Rauchen verbindet.
Als ich meine Hände vor Kälte kaum noch spüren konnte ging ich wieder ins Gebäude und gesellte mich zu Ka, die genüsslich ihr eben erworbenes Brötchen aß.

Der restliche Schultag war nicht weiter aufregend. Die Lehrer erzählten uns Dinge, die keinen interessierten und schrieben Fakten an die Tafel, die niemand entziffern konnte. Als der Unterricht endlich vorbei war nahm ich ohne auf Katharina zu warten den ersten Bus Richtung Heimat. Ich stieg an der Dorfmitte aus und betrat den kleinen Laden, der seit Jahren sein Geschäft hier ausübte. Hinter der Theke stand die bekannte alte Frau, ich wusste nicht, wie sie heißt, aber sie lächelte mir zu als sie mich sah. Ich lächelte kurz zurück, was eher einer verzogenen Grimasse ähnelte, und schlenderte durch die Regalreihen schlangenförmig durch den kleinen Laden, bis ich direkt an der Theke stand. "Na, was kann ich für dich tun, Fräulein?" Ich musste nicht lange überlegen. "Meine Mutter hat mich gebeten, nach der Schule vorbeizukommen, um ihr Zigaretten mitzubringen. Sie raucht blaue L&M, die für 7€ glaube ich." Mit dem vertrauenserweckensten Blick den ich aufsetzen konnte blinzelte ich die Dame an der Kasse an. "Ich schau mal, ob ich noch was da hab." Sie ging in einen kleinen Raum hinter ihr und kam schon nach Sekunden mit einer kleinen blauen Schachtel zurück. "So, da hätten wir sie ja. Das macht dann 7€ bitte." Ich zahlte ihr das Geld und bedankte mich höflich, dann steckte ich die Kippen in meine Jackentasche und verließ schnellen Schrittes den Laden.

Ich will nicht das du rauchst. Ich wollte nicht, dass du stirbst.
Und hat es dich interessiert? Nein.

Vielleicht war ich zu zickig zu der Stimme in meinem Kopf. Aber das ist immerhin alles was sie ist, eine Stimme, nichts weiter. Warum sollte ich nett zu ihr sein. Darauf bedacht, nicht auf den vereisten Straßen auszurutschen, machte ich mich auf den Weg nach hause.

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Überarbeitet ✔️

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