Natürlich musste die Schulleitung meine Mutter über die Vorkommnisse informieren, blieb jedoch erstaunlich diskret der restlichen Schule gegenüber, sodass niemand von dem Vorfall wusste, bis auf einen natürlich. Mein Witwen-Image blieb also Gott sei dank bestehen.
Katharinas Gesichtsausdruck musste unverbesserlich gewesen sein, als sie erfuhr, dass ihr Lieblingsschnösel Thom von der Schule ging und mit ihm und seinen lächerlichen Kurs auch ihre einzige Option, irgendwie Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eine Begründung für seine ‚unerwartete Kündigung' gab es nicht, der Bedarf sei nicht mehr vorhanden hieß es, doch ein Blick in mein Gesicht verriet das Gegenteil. Doch würde sich niemand trauen, etwas zu sagen. Sie hatten Angst vor mir, dem Mädchen, das mit dem Jungen abhing, mit dem man sich nicht anlegen sollte.
Die Sorge meiner Mutter war unermesslich, doch nichtmal sie konnte mich davor bewahren, am darauffolgenden Montag wieder in die Schule zu gehen. Sie fuhr mich persönlich vor das Schulgebäude, sodass ich warten musste, bis sie um die Ecke bog, bevor ich auf dem Absatz kehrt machte und Richtung Raucherpfad lief. Svenja empfing mich mit einer herzlichen Umarmung und von all den Menschen verabscheute ich sie zugegebenermaßen am wenigsten. „Lass mich nie wieder mit diesen Spasten alleine.", zwinkerte sie mir schelmisch zu, bevor sie mit dem Zippo ihres Freundes meine Zigarette anzündete. Auch Joshua zog mich in seine Arme und wuschelte mir durch die Haare, hielt jedoch sofort inne, als er meinen vernichtenden Blick bemerkte. „Vielleicht bringen die Neuigkeiten ein Lächeln auf deine Lippen." Ich horchte halbwegs interessiert auf. „Der Psycho-Bachelor hat aus mysteriösen Gründen unsere schöne Schule verlassen." Aufmunternd sah er mich an und ich zwang mir ein gequältes Lächeln auf, was wohl eher einer Grimasse glich. „Das Arschloch hat gut getan, sich wieder zu verpissen." Erstaunt blickten wir zu Jonas, der mich an diesem Morgen als Einziger nicht begrüßt hatte, doch keiner kommentierte seine Aussage.
Als ich das Klassenzimmer betrat war mein Tisch leer. Stattdessen saß Katharina dahinter neben Sarah, die ihre manikürten Nägel mit einer Begeisterung bewunderte, die ich in hundert Jahren nicht verstehen konnte. Soll mir recht sein. Je mehr Abstand sie hielt desto weniger brachte mich ihr parfümierter Geruch zum Kotzen. Unter normalen Umständen würde ich sie vermissen. Einer von uns beiden hätte sich längst schon beim anderen entschuldigt und wir hätten uns wieder vertragen. Doch die Umstände waren schon lange nicht mehr normal. Und für die stumpfe Anwesenheit meiner leeren Hülle konnte ich gut auf eine Begleitung durch mein Leben verzichten.
Da aufgrund Thoms willkommener Abwesenheit der heutige Stuhlkreis leider Gottes nicht stattfinden konnte, beglückte uns Frau Seufert mit einer herrlichen Stunde Deutsch. Meine Gedanken lösten sich innerhalb weniger Sekunden von ihren Worten und noch ein paar wenige Sekunden später schweifte mein Blick weg von ihrer missratenen Hochsteckfrisur nach draußen. Es war noch immer verboten kalt, aber gleichzeitig auch schrecklich windig, sodass die kalten Außentemperaturen fast an meinen Gemütszustand heran kamen mussten. Gelangweilt beobachtete ich das Umherwirbeln der kahlen Äste, als ein paar Männer meine Aufmerksamkeit erhielten und auch wenn er mit dem Rücken zum Fenster stand, verriet sein blonder Zopf auf Anhieb seine Identität. Ohne Zweifel handelte es sich um Jonas, der offensichtlich den Unterricht schwänzte um seinem Neandertaler-bedingten Trieb nach Möchtegern-Kriminalität auf dem Raucherpfad nachzugehen. Genervt verdrehte ich innerlich die Augen, doch die im Vergleich zu Frau Seufert spannende Szene fesselte mich und verbot es mir, den Blick abzuwenden. Abschätzig musterte ich die zwei dunklen Gestalten, mit denen sich der Wannabe-Womanizer angeregt unterhielt. Entgegen meiner Erwartung sahen sie tatsächlich wie die Ganoven aus dem Bilderbuch aus. Ihre ungepflegte Gesichtsbehaarung ließ auf ihr vergleichbar hohes Alter schließen, sie waren bestimmt schon Mitte bis Ende 30, und unter den Ärmeln ihrer Lederjacken blitzten schwarze Linien hervor. An ihren Hosentaschen hingen silberne Ketten und ihr gesamtes Aussehen forderte einem dazu auf, schreiend wegzurennen. In Gedanken versunken bemerkte ich den Gong nicht, der den bevorstehenden Stundenwechsel ankündigte und während ich meine Sachen zusammen packte nahm ich mir fest vor, Jonas nachher zur Rede zu stellen.
Sobald der Lehrer uns in die Pause schickte eilte ich nach draußen. Es fühlte sich ungewohnt an, ein Ziel vor Augen zu haben, doch ich dachte nicht weiter darüber nach, als ich zu dem rauchenden Junkie lief. Ich wusste, dass es mich einen feuchten Dreck anging. Und doch siegte seit langem die plagende Neugier, was in gewisser Weise besser war als garnichts zu fühlen.
„Jonas." Mit einem Kopfnicken begrüßte ich ihn, angestrengt darauf bedacht, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. „Was willst du?" Sein abschätzender Blick lag auf mir, doch ich ließ mich nicht von ihm beirren. „Wer war das vorhin in der ersten Stunde?" Augenblicklich verspannte er sich. „Hast du mich etwa beobachtet?" Belustigung schwang in seiner Stimme. „Wovon träumst du denn nachts?" „Das willst du wirklich nicht wissen." Offensichtlich gelangweilt von meinem müden Konter drehte er sich die nächste Kippe. „Also?" So leicht würde ich nicht aufgeben. „Es geht dich nichts an, Püppchen." War das sein verdammter ernst? Angewidert von diesem Kosenamen rümpfte ich die Nase. „Hast du etwa gedealt?" Nun widmete er mir wieder seine volle Aufmerksamkeit und ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder weglaufen sollte. „Jetzt hör mir mal gut zu, Kleine." Er trat einen Schritt nach vorne und kam mir bedrohlich nah. „Steck deine Nase nicht in meine Angelegenheiten." Er spuckte auf den Boden und ich sprang zur Seite, sodass ich gerade noch ausweichen konnte. „Und wenn schon.", antwortete er mir dann doch, bevor er sich die Zigarette ansteckte. Mein Gehirn begann die neu gewonnen Informationen gähnend langsam zu verarbeiten. Sucht ist ein gefährlicher Freund, doch ich war nicht süchtig. Ich sehnte mich lediglich nach den bunten Farben, nach der Schwerelosigkeit, nach der alles überschattenden, Glück bringenden Gleichgültigkeit. Und so dachte ich nicht nach bevor ich die Frage aussprach, die mir auf der Zunge lag. „Kann ich dir was abkaufen?" Sofort trat der harte Ausdruck zurück auf sein makelloses Gesicht. „Zieh Leine." Er fauchte mir die Worte entgegen und hätte ich etwas anderes erwartet, hätten mich seine Worte sicherlich verletzt. Doch ich dachte nicht einmal daran. „Komm schon, Alter, ich will nicht betteln." Ich versuchte ‚cool' rüberzukommen, doch ich spürte wie meine Hände in meiner Jackentasche schwitzig wurden. „Ich verkaufe Drogen und keine Anti-Depressiva. Das Zeug ist zu hart für dich." Die Kälte, die er mir plötzlich entgegen warf, kratzte gewaltig an meinem Ego und ich versuchte alles, um ein wenig Selbstachtung zu wahren. „Seit wann kümmert es dich, was ich einschmeiß? Sorgst du dich etwa um mich?" So abfällig wie möglich schrie ich ihm förmlich entgegen und wäre der Raucherpfad nicht kreideleer wäre es sicher zu einer Show gekommen. Jonas zog mich am Kragen zu sich, sodass mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war, doch trotz dem Schock hielt ich seinem bohrenden Blick stand. „Ich sorg mich nicht um dich, doch ich will dich nicht gleich umbringen."
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Wie versprochen, ein neuer Teil der Story 🤗 gewidmet an eine alte Freundin, die sich jetzt gerne angesprochen fühlen darf. Ich habe schon ein paar Ideen, was noch passieren wird, also lasst euch überraschen. Bis dahin ✌🏼
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Sie wissen, was sie tun.
Teen Fiction„Wann verstehst du endlich, dass du bei mir nicht sicher bist?" „Wann verstehst du endlich, dass ich keine Sicherheit suche?" Er ist ihre erste große Liebe. Die Liebe von der Sorte, die man niemals vergisst. Seit seinem Tod wurde Olivias Herz kalt...