Todestag

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29.11.2017


My Dear Jim,

Es wird wohl der letzte Brief. Ich kann das nicht länger.

Der Brief war blutverschmiert und krackelig geschrieben. Bei jedem zittrig-luftholenden Schluzen war der Stift abgerutscht. Die Sicht war tränenverschleiert. Der Atem roch nach billigem Alkohol und davon eine Menge.

Es ist dein Todestag. Heute. Vor einem Jahr bin ich das letzte Mal mit dir im Arm aufgewacht. Du hast dich an mich gekuschelt wie eine Katze. Hast nach salzigem Schweiß von der letzten Nacht gerochen. Ich habe diesen Geruch schon lange nicht mehr in der Nase.

Das Papier war nervös gefaltet wurden.  Wieder und wieder. Auf und zu, auf und zu. Die Kanten sind tief. Die Schrift darauf kaum zu entziffern. Teilweise war das Papier gerissen.

Du hast dich Tage lang auf diesen Tag gefreut. Hast in 'das große Spiel' genannt. Ich dachte wirklich du gehst als Sieger hervor. Vielleicht bist du das ja auch. Ich wurde das erste Mal seit Jahren nicht in deine Pläne einbezogen. Sollte dich schützen. Schützen vor was? VOR WAS JIM? Dich selbst? Wir könnte ich das.

Er wankte verdächtig, hielt sich aber auf den Beinen. Wie ein Mantra murmelte er vor sich her. "Ich liebe dich... Heute... Heute... Todestag... Liebe." Unverständlich. Durcheinander. Die Zigarette zitterte in seinen Fingern.

Du warst plötzlich so glücklich. So glücklich, wie die letzten Tage vor deinem Tod habe ich dich noch nie gesehen. Eine gewisse Traurigkeit glitzerte in deinen warmen Augen. Für alle anderen waren sie kalt, aber nicht wenn sie mich ansahen. Dann war das Schwarz schon fast ein Schokobraun und du sahst mich zärtlich an. Etwas bedauernd. Ich hätte es spüren müssen.

Es war bitterkalt, aber Sebastian spürte, trotz dem T-shirt die Kälte nicht. Seine stahlgrauen Augen waren fest auf sein Ziel gerichtet, obwohl er nur noch verschwommen sah. Alle Muskeln waren gestrafft. Sein Kiefer trat hervor, so stark biss er die Zähne zusammen und alle Menschen wichen ihm ängstlich aus. Er wirkte wie ein bissiger Hund. Hätte ihn jemand angesprochen, hätte er ihn wohl einfach niedergeschlagen.

Du wusstest doch, dass ich dich liebe, du verdammter Wichser. Für diese Aktion will ich dir seit einem Jahr den verdammten Kopf abreißen. Ich habe alles gesehen, du wolltest, dass ich alles sehe. Blut spritzt hoch und landet im hohen Bogen auf dem Kies des Krankenhausdaches. Dein Körper sackte vor meiner Linse zusammen. Durch mein Gewähr hatte ich dich die ganze Zeit im Blick. Du wolltest doch, dass ich da oben sitze. Der Ehrenplatz. Die beste Aussicht.

Sein Ziel war das Krankenhaus. Er wusste wie Jim damals da hoch gekommen war und wankte nach oben. Es war nicht schwer für den Soldaten den Weg zu finden. Der Kies war nass vom letzten Regen und dem ersten getauten Schnee. Das Blut schon seit Monaten weg gewaschen. Trotzdem kannte Sebastian die Stelle wo Jim gestanden hatte genau. Die Szene hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. 

Du wirst keinen Ehrenplatz haben. Du wirst es nicht sehen. Dich wird es nich quälen und verstören. Ich kann so nicht weiter leben. 'Ich habe dich geliebt' wäre falsch. Ich liebe dich noch immer. Vielleicht sehen wir uns in der Hölle oder wo auch immer die Seele hingeht. Vielleicht nehme ich meinen Platz an deiner Seite wieder ein. Wenn nicht so, dann vielleicht im Grabe. Ich vermisse dich.

London glitzerte im ersten Abendrot unter ihm. Die Lichter funkelten und spiegelten sich in der Waffe, die er aus seiner Tasche gezogen hatte. Der Lauf war direkt auf ihn gerichtet. Er sah zum Himmel, nahm das blöde Ding in den Mund und drückte ohne zu zögern ab. Sebastian hatte nichts mehr zu sagen. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Es ist nicht lange her da verlor Sebastian alles genau an diesem Ort. Er verlor Jim. Seinen besten Freund, festen Freund und einzigen Freund. Die Liebe seines Lebens und sein Leben selbst und trotzdem schickte er ihm immer wieder Briefe.

In ewigwährender Liebe

Sebastian Moran Moriarty

Briefe an JimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt