Einen Moment lang fühle ich mich, als hätte man mir ins Gesicht geschlagen. Eine schneidende, unerwartete Ohrfeige, durch die es in meinen Ohren klingelt. Meine Brust wird eng, ich spüre meinen Herzschlag nicht. Ich kriege keine Luft.
Reiß dich zusammen. Du stirbst nicht. Er stirbt, nicht du. Und du kennst ihn nicht. Du hast kein recht, dich so aufzuführen.
Ich schlucke hart, zwinge mich, ihn anzusehen.
„Wie lange schon?", frage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
David wirkt nicht mehr ganz so angespannt. „Eine Weile schon", gibt er zu.
Das Klingeln wird leiser, plötzlich fällt mir auf, wie unglaublich schnell wir fahren. Die Tachonadel zittert genau so wie ich, jedenfalls kommt es mir so vor.
„Kannst...kannst du ein bisschen langsamer fahren?", frage ich unsicher, meine Stimme klingt höher als sonst. Als wäre ihm gar nicht aufgefallen, dass wir an den Hundertachtzig gekratzt haben, sieht er überrascht auf die Anzeige und geht sofort vom Gas runter.
„Entschuldige", murmelt er.
Schweigend betrachte ich ihn. Wie konnte mir das nur nicht auffallen? Oder besser gesagt – wie konnte ich das, was ich gesehen habe, nur so falsch interpretieren? Mir ist nicht entgangen, dass er abgebaut hat, dass er blass ist und dass seine Haare kürzer sind. Nur habe ich das für eine Art Rebellion oder Geschmacksveränderung gehalten, nicht für einen Tumor.
Nicht für einen Tumor.
Wer denkt schon bei einem Einundzwanzigjährigen, der sich optisch verändert sofort, dass er Krebs hat?
„Wirst du sterben?" Es fällt mir unheimlich schwer, die Frage zu stellen und doch kann ich nicht anders. Das würde alles verändern. Die ganze Reise, alles stünde in einem völlig neuen Licht.
„Irgendwann, ja", sagt er und schenkt mir ein kleines, besänftigendes Lächeln ohne den Blick von der Autobahn abzuwenden. „Aber noch nicht jetzt."
Meine Nase beginnt zu brennen, mein Blick verschwimmt kurz und bevor ich anfangen kann zu weinen, greife ich instinktiv nach seinem Arm.
Ich weiß nicht, ob ich mich an ihm festhalte oder was genau ich da tue, aber es hilft ein kleines bisschen.
„Nicht weinen, okay?"
Ich nicke, während sich eine kleine, verräterische Träne aus meinen Augenwinkeln stiehlt.
„Hey, Isa, wach auf." Verschlafen blinzele ich, stelle fest, dass ich Davids Arm immer noch umklammert halte und an seine Schulter gelehnt eingeschlafen bin. Mist, hoffentlich habe ich ihn nicht angesabbert, manchmal schlafe ich mit offenem Mund.
Er hat Krebs.
Er hat Krebs, du dumme Kuh, schreit mein Gedächtnis mich plötzlich an. Für einen kurzen Augenblick habe ich das verdrängt. Jetzt ist es wieder da und sofort wird mir schwer ums Herz.
Wie muss er sich nur fühlen?
Und warum fühle ich mich so? Wieso bin ich nur so verdammt schwach und emotional und unkontrolliert?
„Ich wollte uns Kaffee und was zu Essen holen", meint David sanft. Ich setze mich auf und sehe nach draußen. Wir parken vor irgendeiner Autobahnraststätte, die mit einem üppigen Frühstück und sauberen Toiletten wirbt.
„Ich muss auf' s Klo", bringe ich nur hervor. Zu mehr bin ich nicht im Stande. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Und weil ich nicht vor ihm weinen möchte, steige ich hastig aus und eile zur Toilette, bücke mich unter dem Kindereingang durch, da ich kein Kleingeld parat habe und eile zur hintersten Kabine, wo ich mich einschließe und auf den geschlossenen Klodeckel fallen lasse.
