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Seufzend stelle ich das warme Wasser ab, steige aus der Dusche und ziehe mir mein übergroßes Handtuch bis über die Nase. Vor vielleicht einer Stunde hat David mich vor meiner Haustür abgesetzt. Wir haben noch ein paar Minuten geredet und er hat mich nochmal gefragt, ob ich morgen wirklich zur Arbeit muss und nicht stattdessen mit ihm mitkommen will. Er würde auf jeden Fall fahren, hat er gesagt. Warum er unbedingt wieder weg aus Trosa will, obwohl er gerade mal seit ein oder zwei Wochen zurück ist, konnte er mir nicht sagen.

Ich ersticke hier drinnen, hat er nur gemurmelt, was auch immer das heißt.

Bibbernd wische ich mit der flachen Hand über den beschlagenen Badezimmerspiegel und betrachte mein Gesicht in der kleinen Fläche.

Wenn ich daran denke, morgen wieder um sechs aufstehen zu müssen, um in dieses stickige Büro zu kriechen und dort acht Stunden rum zu gammeln, habe ich tatsächlich kurz das Verlangen, David anzurufen und ihm zu sagen, dass ich doch dabei bin.

Unglaublich, dass ich tatsächlich darüber nachdenke. Ich habe David zig Jahre nicht gesehen, ich kenne ihn überhaupt nicht und doch spiele ich allen Ernstes mit dem Gedanken, mit ihm und seiner Karre weg zu fahren. Irgendwohin. Das ist doch Wahnsinn!

Warum bin ich so feige? Warum bin ich so langweilig? Warum mach ich' s nicht einfach?

Weil ich es Papa nicht erklären könnte und meine Ausbildung an den Nagel hängen müsste. Und weil ich kein Geld habe, zumindest nicht genug für mehrere Monate. Ein bisschen habe ich zwar angespart, aber damit wollte ich mir eigentlich irgendwann mal ein Auto kaufen. Momentan reicht es vielleicht für die Reifen und den Erste-Hilfe-Kasten.

Wobei, Reifen sind teuer, oder?

Selbst in meinen Gedanken lenke ich ab.

Kopfschüttelnd rubbele ich mich trocken, putze mir die Zähne und schlüpfe in meinen Pyjama. Um nicht weiter auf blöde Ideen zu kommen, gehe ich ohne Umschweife in mein Schlafzimmer Schrägstrich Wohnzimmer Schrägstrich Küche, lösche das Licht und ziehe mir die Decke über den Kopf, in der Hoffnung, dass ich in maximal fünf Sekunden einschlafen werde und erst morgen früh aufwache, wenn David schon längst über alle Berge ist. Er will noch diese Nacht aufbrechen, hat er gesagt.

Fünf.

Vier.

Drei.

Zwei.

Eins.

Ruckartig setze ich mich auf, schlage die Decke zurück und klettere aus dem Bett. Ohne mir Zeit zu lassen, darüber nachzudenken, knie ich mich auf den Boden und ziehe meine Reisetasche unter dem Lattenrost hervor.

Während ich mit einer Hand Klamotten aus meinem Schrank ziehe und in die Tasche werfe, tippe ich mit der anderen Hand eine Nachricht an David.

Bin dabei. Hol mich ab.

Gut, dass er mir vorhin noch seine Nummer gegeben hat für den Fall der Fälle.

Bitte, schicke ich noch hinterher. Ein Lachen steigt in mir auf. Ein seltsames, unsicheres Lachen, das ich so nicht von mir kenne. Es fühlt sich neu an. Und frei.

Vielleicht werde ich gerade aber auch einfach verrückt und rede es mir schön.

Als ich mir meine Chucks zuschnüre und die Kaputze meines Pullis über den Kopf ziehe, kommen wieder leise Zweifel auf, die ich versucht habe zu verdrängen.

Ich kenne David überhaupt nicht. Ich habe einen Job. Ich habe eine Familie. Ich werde gebraucht.

„Jaah, aber das Spannendste an deinem Leben ist momentan der wöchentliche Clubbesuch und wenn dein Chef dich freitags früher gehen lässt, also was hast du schon zu verlieren?", versuche ich mir selbst Mut zu machen.

„Ich komme ja wieder", murmele ich zuversichtlich. Und ich habe drei Schwestern – die und Papa werden das schon wuppen. Und Mama ist ja auch noch da.

Als ich die Hand auf die Türklinke lege, wird mir kalt. Tief durchatmend schließe ich die Augen.

„Du hast nichts zu verlieren", sage ich mir erneut. Und dann stoße ich etwas zu enthusiastisch die Tür auf, weswegen David, der auf der anderen Seite steht und offenbar gerade klingeln wollte, einen Sprung zurück macht.

„Da bist du ja", sage ich und meine Stimme klingt fester, unbeschwerter als ich gedacht hätte. Plötzlich ist mir auch nicht mehr kalt. Grinsend, schließe ich die Tür hinter mir ab, drehe mich zu David um und mustere ihn. Er sieht aus, als hätte ich ihn gerade sehr überrascht, indem ich raus gekommen bin.

„Äh...", ist alles, was er hervorbringt. Als ich los maschiere, folgt er mir, wirkt aber immer noch ziemlich überrumpelt. Komischer Typ, ich hab ihm doch geschrieben.

Sein Wagen steht direkt vor der Haustür. Ich werfe mein Zeug auf die Rückbank, wo auch seine Tasche verstaut ist und fläze mich auf den Beifahrersitz. Die kleine Uhr über seinem Tacho sagt, dass es kurz vor zwölf ist. In wenigen Minuten beginnt ein neues Leben. Zumindest ein neuer Abschnitt. Denn auch wenn ich zurück kommen werde, was ich ganz sicher tun werde, habe ich dann keinen Job mehr. Und vielleicht verstößt meine Familie mich. Nein, das ist Blödsinn. Mein Papa würde mich niemals verstoßen. Wütend wird er sein, das auf jeden Fall, aber Mama wird ihn wieder runterbringen. Aber meinen Ausbildungsplatz verliere ich definitiv. Komischerweise macht mir dieser Gedanke keine Angst, nein. In mir kribbelt es, als wäre ich fünf und morgen Weihnachten.

David, der immer noch nichts gesagt hat, setzt sich neben mich und startet den Motor.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen", stelle ich fest, fummele die Schleife in meinen Schuhen auf und ziehe die Füße auf meinen Sitz.

„Ich...äh...", stottert David weiter vor sich hin und fährt los.

„Hast du meine Nachricht nicht bekommen?", frage ich, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und öffne unseren Chat.

„Ne", meint David knapp, was die grauen und nicht blauen Haken unter meiner WhatsApp-Nachricht bestätigen.

„Und was hast du dann bei mir gemacht?", lache ich. „Wolltest du mich entführen, weil ich erst gesagt habe, dass ich nicht mit komme?"

David schenkt mir einen seltsamen, vorwurfsvollen Blick.

„Das war ein Scherz, David", kläre ich ihn auf und lächele. „Zu so was wärst du doch gar nicht in der Lage. Und ich würde mich nie im Leben entführen lassen."

IsabellaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt