Blau

99 17 6
                                    

Jeden Tag wartete ich auf der Bank, malte Schmetterlinge und ließ absichtlich meinen Lieblingsstift fallen, damit er ihn für mich aufhob und mich anlächelte. 

„Warum ist das eigentlich dein Lieblingsstift?"

 „Weil er blau ist." 

„Magst du Blau?" 

„Natürlich, du nicht?" 

Shou drehte seinen Kopf leicht zur Seite. Wir lagen nebeneinander im Krankenhaushof und rupften nebenbei Hände voll Gras aus. „Ich habe keine Lieblingsfarbe. Ich weiß nur, dass ich kein Rot mag." „Warum magst du kein Rot?"Shou guckt ernst. „Weil Blut rot ist." „Blut?" „Das rote Zeug, das aus dir rauskommt, wenn du hingefallen bist." Stimmt. Blut. Shou ist total schlau! 

„Aber du musst auch eine Lieblingsfarbe haben. Nimm doch Blau." 

„Warum Blau?" 

„Blau wie der Himmel." 

 Shou dreht seinen Kopf zurück und ich tue es ihm nach.„Stimmt. Wie der Himmel. Mein Traum ist es irgendwann dorthin zu fliegen."Shou will fliegen? Lustig, wo sein Name doch 'Fliegen' bedeutet.„Wohin?"„Einfach immer weiter nach oben."„Dann werde ich der Wind sein, der dich da hochträgt."Shou lacht. „'Wind' wegen 'Makani'?"„Ja." 

Von da an war unsere gemeinsame Lieblingsfarbe Blau.In den nächsten Tagen sammelten wir blaue Dinge. Meinen blauen Buntstift, Shou's Mütze, das Klemmbrett meines Vaters, das Armband von Shous Mutter und vieles weitere. Wir fertigten sogar eine Liste von allen Dingen an, die wir fanden. Dazu gehörte auch ein Auto oder eine Brotdose. 

Ich lernte außerdem Shous Eltern kennen. Sie waren sehr nett, wenn sie auch dauernd nur mahnten, dass Shou sich schonen musste weil er Krebs hatte und sie erklärten mir bestimmt dreimal, dass Shou keinen Sport machen dürfe. Als ob ich zu dumm wäre, das nach dem ersten Mal zu kapieren . . . 

Aber mir war egal, dass Shou Krebs hatte. Papa und die anderen Ärzte behandelten ihn ja.„Shou! Happy Birthday!" Strahlend stand ich eines Abends neben seinem Bett und hielt ihm einen selbstgebastelten Papierschmetterling hin. Natürlich einen blauen. Shou schaute verdutzt zu mir hoch. „Makani? Was soll das? Ich habe erst morgen Geburtstag."„Ja, aber da wird deine Familie mit dir feiern, also feiere ich jetzt mit dir. Wir bleiben einfach bis 1 Uhr auf, dann hast du schon Geburtstag. Okay?" Shou grinst breit und nimmt mir den Schmetterling aus der Hand. „Okay." Schnell setze ich mich zu ihm aufs Bett und wir schauen aus dem Fenster. Die Sonne ist bereits untergegangen und der Himmel ist dunkel. Aber immer noch blau. 

„Papa hat gesagt, dass du heute den ganzen Tag im Bett warst. Warum?"Shou seufzt und antwortet nur nach kurzem Zögern. „Weil ich mich nicht wohl fühle. Meine Ärztin hat gesagt, dass der Krebs sich weiter ausgebreitet hat."„Warum breitet er sich aus? Du wirst doch behandelt oder?"„Ja, aber Behandlung hilft nicht immer. Manchmal ist der Krebs zu stark und dann stirbt man."„Was ist sterben?" Darauf wollte Shou mir nicht antworten. Aber ich wusste es ja. 

Sterben ist offenbar der Begriff dafür, dass man gehen muss. An einen Ort wohin ihn seine Eltern nicht begleiten können. Aber ich würde ihn begleiten. Ich würde Shou nicht alleine lassen. 

Neugierig beugte ich mich zu Shou vor und drückte meine Hand an seine Brust. Ich konnte sein Herz schlagen spüren. Das war gut. Ich erinnerte mich an eine Gespräch mit meinem Vater.„Woher weiß man, wann genau jemand gehen muss?" Mein Vater hatte gezögert und mir dann eine Antwort gegeben. „Wenn sein Herz nicht mehr schlägt. Das heißt, dass der Patient gehen muss."„Alles ist gut Shou. Du musst nicht gehen." Ich strahlte ihn an, aber er guckte immer noch ernst aus dem Fenster. Ich setzte mich genau neben ihn und wir schauten gemeinsam in den dunklen Himmel. 

Dann hustete Shou. „Shou? Bist du erkältet?"Shou wollte mir antworten, aber er hustete nur noch mehr. Rotes Blut sprenkelte seine Bettdecke. „Shou? Was ist los?" Panisch wand ich meinen Kopf und drückte den Notrufknopf neben dem Bett. „Warte Shou. Sie helfen dir gleich. Alles wird gut." Unsicher tätschelte ich ihm den Rücken, aber er schien mich gar nicht zu hören. Im nächsten Moment kamen mehrere Ärzte hereingestürzt. Auch mein Papa war da. „Makani. Geh raus. Ich komme zu dir, wenn ich fertig bin." Eindringlich schaute er mir in die Augen. Dann drehte er sich um und stellte sich zu den anderen Ärzten, die Shou umringten.Ich ging zwei Schritte in Richtung Tür. Ich blieb stehen und drehte mich um. Durch eine Lücke konnte ich Shous Gesicht sehen. Die Ärzte legten ihn auf den Rücken und verbanden ihn mit mehreren verschiedenen Schläuchen. 

Shou weinte. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen, aber . . . jetzt heulte er, als ob er sich schrecklich wehgetan hätte. Ich wollte zu ihm laufen und ihn trösten, hatte aber Angst, dass sie mich wegschicken würden. Unsicher, was ich jetzt tun sollte, stand ich im Türrahmen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich nicht bewegen konnte. Eine Gänsehaut überlief meinen Rücken, als Shou anfing zu sprechen.„Ich . . . will nicht . . . sterben . . . Mama . . . Papa." Er war leise, aber er wurde immer wieder von verzweifelten Schluchzern unterbrochen. „Ich . . . nach Hause. Ich will . . . nach Hause." 

Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, aber dann wurde Shou still. Aus irgendeinem Grund war das noch schlimmer. Die Ärzte traten einen Schritt von Shous Bett zurück. Mein Vater sagte irgendetwas, aber ich hatte nur noch ein dumpfes Rauschen im Ohr. 

Ist sterben so schlimm? Tut es sehr weh?

Ich weiß nur, dass Leben anders istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt