Ich bin deine Tochter

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„Ich bin deine Tochter."

  In den Augen des Mädchens schwammen Tränen. Sie glitzerten in dem gedämmten Licht, das aus dem Flur schien, gebrochen von seinem eigenen, großen Körper, der Schatten auf sie warf. Hinter sich spürte er die Wärme seines Zuhauses, in seinem Gesicht stach die winterliche Kälte. Ihre Wangen waren rot, vielleicht von dem eisigen Wind, der durch die Nacht peitschte.

  Er schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Er hatte keine Tochter.

  „Tut mir leid", nuschelte er in seinen Bart. „Ich habe keine Tochter."

  Er war schon dabei, die Tür wieder zu schließen, doch sie stellte entschlossen ihren Fuß zwischen Tür uns Rahmen. Ein Windstoß fuhr in seine Wohnung, zerrte an dem Haufen ungeöffneter Briefe, der sich auf der Kommode in dem schmuddeligen Flur stapelte.

  „Bitte", sagte sie uns ihre Stimme zitterte. Sie zog Jacke enger um sich. „Bitte, hör mir zu."

  „Was willst du?", fragte er und klang ärgerlich, obwohl das nicht beabsichtigt war. Er wollte doch bloß seine Ruhe haben. Nach all den anstregenden, lauten Jahren wollte er einmal entspannen.

  „Ich will, dass du mir zuhörst!" Sie konnte nicht älter als zwanzig sein. Ihre Haare waren braun, reichten ihr nur knapp über die Ohren. Verschmierte Make-up-Reste klebten um ihre Augen. Sie machte einen ziemlich misslichen Eindruck auf ihn.

  Dabei war er doch nicht viel besser. Er, der Nachbar mit dem niemand reden wollte, der Mann von dem man die Kinder fernhielt. Er schaffte es nicht, die zersprungene Glühbirne in der Flurlampe zu wechseln, geschweige denn, sich mal wieder zu rasieren. Dort, in seinem chaotischen Wohnzimmer warteten lediglich eine Flasche Bier und ein Fernsehprogramm, das ihn nicht interessierte, auf ihn. Für einen Moment schloss er die Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, was vor zwanzig Jahren passiert war.

  „Okay", brummte er und trat beiseite. „Komm rein."

  Sie lächelte dankbar und stand daraufhin ziemlich schnell in dem engen Flur. Sie musste wirklich frieren! Er schloss die Tür und deutete auf einen überladenen Kleiderständer, über den sie ihre Jacke legen konnte. So lange hatte er nun keinen Besuch mehr gehabt, dass es verdammt befremdlich war, eine weitere, lebende Person in seiner Wohnung zu sehen.

  Er ging weiter in das Wohnzimmer und sie folgte ihm.

  „Wie war noch mal dein Name? Sorry", fragte er und schüttelte innerlich den Kopf, als er das Chaos sah. Erst jetzt nahm er wirklich war, in was für einem Durcheinander er eigentlich lebte. Und auf einmal schämte er sich dafür.

  „Jenny", antwortete sie. „Jenny, so hat mich meine Mutter genannt. Aber..." Für einen Moment hielt sie inne. „Du wolltest mich Amelie nennen." Ihre Stimme hatte sich verändert, war schlagartig so ruhig geworden. Etwas schwang mit ihren Worten. Etwas warmes.

  Er hielt inne. Amelie. Oh Gott, da war etwas. Eine Erinnerung. Längst verdrängt und vergessen. Sie stand immer noch hinter ihm, konnte sein Gesicht nicht sehen. Und vermutlich war das besser so, wollte er doch nicht, dass sie sah, wie seine Lippe anfing, zu beben.

  „Jenny, möchtest du etwas trinken?", fragte er, ohne sich umzudrehen.

  „Gerne", antwortete sie. „Aber bitte... Nenn mich Amelie. Ich mag Amelie lieber. Das sollte mein richtiger Name sein."

  Er holte ein Glas aus einem der Schränke und füllte es mit Leitungswasser. Er besaß keine Wasserflaschen, nur Kästen voller Bier. Ein wenig beschämt reichte er dem Mädchen das Glas. Amelie nahm einen Schluck und schaute sich kurz um. Das Zimmer war Küche und Wohnzimmer in einem. Eine Arbeitsfläche trennte die beiden Bereiche. Da er die Küche fast nie benutzte, war sie im Vergleich zu dem Sofa und dem niedrigen Couchtisch noch relativ ordentlich. In dem Wohnzimmerbereich stapelte sich dagegen alles, was er in seiner Einsamkeit angeschafft und nie weg geräumt hatte. Alte, graue Zeitungen, leere Bierflaschen, Pornohefte, schwarz glänzende Schallplatten, kaum benutzte Ladekabel, Chipstüten, Chipskrümel. Er war ein hoffnungsloser Fall.

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