34.

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Schon auf dem Weg wusste ich, das etwas nicht stimmte. Vom Klassenzimmer aus hatte ich nicht bis in Rafaels Raum hören können, es war zu laut gewesen und zu viele Türen und Wände dazwischen, die die Geräusche dahinter abgedämpft hatten, doch jetzt konnte ich es und ich hörte nichts. Mehrmals prüfte ich, ob es wirklich das richtige Stockwerk und der richtige Raum war, den ich von weitem untersuchte, aber keine Stimmen und keine Bewegungen kamen von dort! Ich konnte deswegen nicht sehen, was da passierte, und bekam ein schlechtes Gefühl. Hoffentlich waren sie in ein anderes Klassenzimmer gegangen. Vielleicht hatte Tobi Rafael etwas in der Schule zeigen wollen o-oder sogar außerhalb und das war der Grund, warum ich nichts von ihnen erfassen konnte. Ich wurde immer schneller, ließ irgendwann Tims Hand los und rutschte beinahe aus, als ich um die Ecke des Flurs bog, in dem Raum Siebzehn lag. D-die Tür stand einen Spalt offen! Ich keuchte, stolperte die letzten Meter vorwärts um mich an Rahmen und Klinke festzuklammern und glaubte, in einen Alptraum geworfen worden zu sein.

Der ehemalige Deutschraum war völlig verwüstet. Die Schulbänke, die Rafael zuvor ein wenig umgestellt hatte, damit man leicht vom Eingang nach vorne zu seinem Platz gehen konnte, waren teilweise zur Seite gefegt oder von den metallenen Füßen geworfen worden, Stühle standen und lagen kreuz und quer herum, der Lehrertisch war demoliert, Papier flatterte auf dem Boden, angetrieben von der Brise, die durch das zerbrochene Fenster wehte. Die Glassplitter waren überall verteilt, als wäre die Scheibe unter immensen Druck zersprungen, von außen her kommend. Und als ich einen zaghaften Schritt in das Büro trat, konnte ich auch Rafael sehen. Er saß eingekauert zwischen der Wand und einer umgestürzten Bank, als hätte er dort Schutz gesucht, aber er schien ohnmächtig geworden zu sein. Sofort war ich bei ihm, rüttelte ihn ungeduldig und panisch an den Schultern, um ihn wieder aufzuwecken. "Rafael! Rafi, was ist hier passiert? Wo ist Tobi?!" Dabei ignorierte ich tapfer den Kratzer an der Stirn des Mannes. Ich würde Hilfe holen gehen, aber erst musste er mir sagen, wo mein Kumpel war! Es zählte vielleicht jede Sekunde!

Mein Gegenüber schreckte unvermittelt auf und schien kurze Zeit völlig orientierungslos. Er schnappte mehrmals nach Luft, unterbrach seine Sprechansätze und blieb plötzlich stocksteif sitzen. "Tobi...", wisperte er, schluckte, eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und zitternd hob er einen Arm, um auf etwas hinter mir zu zeigen. Ich ahnte in diesem Moment bereits, welches grausige Bild mich empfangen würde, wenn ich mich umdrehte, und ich hatte furchtbare Angst davor, dass es sich erfüllen würde, sobald ich meinen Kopf drehte. Ein Schluchzen kämpfte sich seinen Weg aus meinem Hals empor, mein Körper versteifte sich, dann wandte ich mich in Zeitlupe in die Richtung um, die Rafael mir wies.

Hätten seine Augen nicht offen gestanden und glasig an die Zimmerdecke gestarrt, konnte man vielleicht denken, dass Tobi schlief. Wer auch immer sich gewaltsam Zugang in diesen Raum verschafft hatte, musste den Kleinen auch in dieser verqueren Haltung unter das Lehrerpult gezwängt haben, und mir drohte übel zu werden von den Anblick seiner gequetschten Haut am Hals und seines blau angelaufenen Nackens und Kinns. Sogar die geplatzten Äderchen, die seine Augen an den Rändern rötlich färbten, zeigten meine Sinne mir grausam genau und detailgetreu. Es gab keinen Zweifel daran, dass man ihn zu Tode gewürgt hatte. Und dass er jede Sekunde davon gespürt haben musste. Dazu musste man kein Genie sein. Sein gequälter Blick sagte alles...

Mit einem entsetzten Aufschrei hechtete ich mich zu ihm, kroch an seine Seite, zog Tobi aus dem winzigen Versteck heraus und bettete ihn auf meinen Schoß. Überprüfte seinen Puls, tätschelte seine Wange, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. Ein Teil von mir wollte es einfach nicht wahr haben, dass man ihn mir genommen hatte! Bis vorhin war er doch noch quicklebendig gewesen! Hatte geatmet und mit mir geredet und sich bewegt und war nicht so schrecklich kalt und reglos gewesen...! Nein... Er konnte nicht einfach tot sein! Es konnte nicht sein! "Tobi, bitte...!", hörte ich mich selber flüstern, wieder und wieder, "Bitte... Nicht...!" Doch wo auch immer er sich jetzt befand, die Worte konnten ihn nicht mehr erreichen. Seine große Angst von heute, sie war Wirklichkeit geworden. Er war weg, verschwunden... für immer...

Rafael hinter mir ächzte, taumelte zu mir und brach auch schon wieder zusammen, kaum dass er auf unserer Höhe angekommen war. "Tobi...", klagte auch er, jetzt mit nassen Wangen und dicken Tränen in den Augen, nahm ihn mir vorsichtig ab und umarmte ihn ein letztes Mal. Er musste ihm tatsächlich sehr viel bedeutet haben in der kurzen Zeit, die sie einander gekannt und geliebt hatten...! Warum hatte man ihn uns dann nehmen müssen? Das war nicht fair! Tobi war immer ein netter Junge gewesen und hatte niemals jemandem etwas angetan! Warum hatte man ihn gewählt?!

Als hätte Rafael meine Gedanken gelesen, schniefte er und rang um eine einigermaßen feste Stimme: "Er... er hatte mir etwas wichtiges sagen wollen... A-aber bevor er d-das konnte, hat man uns überfallen! Ich konnte nichts f-für ihn tun, ich war so n-nutzlos! Und jetzt... u-und jetzt ist Tobi-!" Er beendete seinen letzten Satz nicht und vergrub nur sein Gesicht in Tobis schlaffer Schulter. Ich befand mich im Schock. Ich wollte weinen und vor Wut aufschreien zugleich, konnte aber beides nicht. Da war nur Leere in mir, als wäre der Fakt, dass ich Tobi nie wiedersehen würde, immer noch nicht ganz in meinem Herzen angekommen.

"Wer?" Das Wort fiel mir so plump und tonlos aus dem Mund, dass ich kurz nicht wusste, ob es wirklich von mir gekommen war. Doch Rafael schaute eindeutig mich an, verwirrt und innerlich zerbrochen, die Augen ein Spiegel seiner Seele. "Wer war das? Wer hat ihn-! Wer hat ihn umgebracht?!"

Der Mann schüttelte langsam den Kopf. "Sein Gesicht war v-verhüllt...", konnte er irgendwann gequält heraus bringen, "Ich weiß es nicht!"

Tobi hatte gesagt, wo es Superhelden gibt, gibt es auch einen Superschurken, fiel mir in diesem Moment seltsamerweise ein. Seit dem Wochenende verschwanden immer mehr Klassenkameraden mit Superkräften spurlos und einer war jetzt sogar tot, ermordet von einem Kerl, der seine Identität nicht preisgeben wollte. Wahrscheinlich... wahrscheinlich hatte mein Kumpel Recht gehabt mit seiner Befürchtung... Und ich hatte nicht auf ihn gehört! Ich verdammter, egoistischer Idiot! Ich hatte ihn nicht beschützen können!

Nun kamen auch die Tränen, die sich bisher zurück gehalten hatten, und ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich dachte an all die Dinge, die wir zusammen erlebt hatten, die unzähligen Male, in denen er mich unterstützt oder aufgemuntert oder beraten hatte mit seiner unglaublichen Voraussicht und ich zuverlässig immer auf ihn hatte zählen können. Das war jetzt nicht mehr... Der einzige, der mir noch nahe stand, war Tim, und-

Wo war Tim eigentlich? Mir fiel erst in diesem Moment bewusst auf, dass er gar nicht hier war. Ich dachte, er wäre mir trotzdem gefolgt, obwohl ich seine Hand losgelassen hatte, aber das schien nicht der Fall zu sein. Vielleicht wartete er vor der Tür? Aber da war er auch nicht, als ich kurz meine Sinne losschickte. Er war nicht mal im Gang oder überhaupt dieser Etage, wurde mir klar. War er etwa einfach umgekehrt und zurück gegangen? Es schien ganz so...

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