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Zu unseren Füßen meldete sich jemand mit einem gurgelndem Geräusch, dann kam das Leben in den strohblonden Jungen zurück. Noch etwas groggy schaute er sich um und wir drei tauschten alarmierte Blicke aus. Verdammt, wir hatten scheinbar alle gar nicht bemerkt, wo wir noch waren und wie viel Zeit wir verquatscht hatten! Die nächste Stunde war seit mindestens fünf Minuten schon im Gange, wir standen immer noch im Matheraum und Dominik war eben aus seinem kleinen Mittagsschläfchen wieder aufgewacht! Sobald er wieder klar denken konnte und sich zusammenreimte, was passiert war, würden wir ihn nie wieder zu fassen kriegen! Das durfte nicht passieren! "Pauline!", rief ich erschrocken, damit sie den Jungen weiter in Schach hielt, doch sie hatte schon längst selber reagiert. "Hey hey, ganz ruhig. Alles ist in Ordnung. Du wirst deine Kräfte nicht eher einsetzen, als ich es dir sage, verstanden?" Er nickte, seine Augen wieder so verträumt in die Ferne gerichtet. Pauline löste ihre Hand von seinen Haaren und strahlte: "Prima! Dann komm mal mit zu Herrn Eisler, er wird dir sicher sehr aufmerksam bei deiner Geschichte zuhören!"

"Jaaa Mamaa", lächelte Dominik versonnen und ich musste mir die Hände vor den Mund pressen, um nicht vor Lachen aufzuschreien! Das war das skurrilste und doch auch lustigste, was ich je in meinem Leben gesehen hatte: Pauline, die selbstzufrieden vornweg ging, dahinter Tobi, der sich ebenfalls die Schadenfreude nicht verkneifen konnte, und knapp vor mir der gemütlich schlurfende Muskelprotz, der unter der Fremdkontrolle aber eher an einen zahmen Maulesel erinnerte. In dieser Kolonne durchquerten wir das ausgestorbene Schulgebäude, schnurstracks auf zu Rafaels Büro.


Der Mann hatte wohl nicht wirklich damit gerechnet, uns heute noch einmal beraten zu müssen. Mit einem Kaffee in der Hand war er ans Fenster seines neuen Büros getreten und schaute gedankenverloren nach draußen, während ich ihm alles erzählte, was eben zwischen Dominik und mir passiert war. An geeigneten Stellen fügten die anderen beiden Ergänzungen ein. Dominik selber saß etwas abseits von uns und ließ seinen Blick verträumt durch den Raum schweifen. Nicht einmal unterbrach er uns oder leugnete das, was wir über ihn preisgaben.

Dennoch wurde mir schnell unwohl. Hörte Rafael uns auch wirklich zu? Er nickte zwar zu den richtigen Zeitpunkten verstehend oder gab brummende Laute von sich um zu zeigen, dass er uns noch folgte, aber seine Haltung wirkte zu sonst sehr abweisend und kalt. Konnte er sich nicht für die wenigen Minuten wieder zu uns setzen und interessiert seine Augenbrauen heben, wie er es vorhin noch getan hatte? Was sollte da draußen los sein, das so interessant für ihn war?

"Rafi?", fragte Tobi, dem es ebenfalls aufgefallen war, irgendwann zaghaft. Der Angesprochene zuckte zusammen. Als er uns sein Gesicht zuwandte, sah er traurig aus. "Tut mir leid. Es ist unhöflich von mir, ich weiß. Ich hatte vorhin einen Anruf bekommen, private Probleme... Aber ich sollte euch nicht damit belasten. Es geht gerade um euch", erklärte er sich mit leiser, belegter Stimme, "Ich habe zugehört, keine Angst."

Tobi und ich schauten uns kurz an. Private Probleme? Das klang nicht gut... Trotzdem brachten wir erst unsere Geschichte zuende, nach Rafael würden wir uns erkundigen, sobald er ein Urteil über Dominik gefällt hatte! Würde er uns versehentlich entwischen, könnte das für uns alle fatal enden...!

Der Brünette wirkte schon ein wenig gefasster, als er wieder auf uns zukam und sich selbst ein Bild von unserem Mitschüler machen wollte. Dominik grinste ihn glücklich an. "Heyyy man, sehen Sie diese lustigen Dinger auch?", kicherte er seltsam lallend und zeigte über seine Schulter, "Da war schon wieder eins! Hihi!"

Rafael runzelte verwirrt seine Stirn, ich konnte es ihm nicht verdenken. Der Kerl wirkte, als hätte er vollkommen den Verstand verloren, aber Pauline sah völlig entspannt aus. Sähe es um seine geistige Gesundheit wirklich kritisch aus, hätte sie bestimmt eher eingegriffen! "Was ist denn mit ihm passiert?"

"Das ist nur sicherheitshalber. Er war vorhin wahnsinnig aggressiv. Wenn Sie mit ihm reden wollen, wäre es außerdem besser, die Tür zu verschließen, damit er nicht abhaut!", rieten wir ihm schnell. Rafael nickte dankbar, folgte unserem Hinweis und setzte sich dann Dominik gegenüber auf einen Stuhl, sodass sie sich Angesicht zu Angesicht unterhalten konnten. Auf sein Zeichen beugte das Mädchen sich hinüber und reduzierte vorsichtig die Beruhigungsstoffe.

"...Was? Wo bin ich?", war das erste, was der Typ im wachen Zustand wieder von sich gab. Als er mich fand, schien er sich zu erinnern und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Du! Du mieser Schnüffler, das wirst du noch bereuen!", knurrte er böse und machte Anstalten, aufzustehen und auf mich loszugehen. Automatisch streckte Pauline schon ihren Arm aus, aber Rafael schüttelte den Kopf. "Stopp, Dominik! Du wirst Stegi nichts antun, verstanden? Beruhige dich und rede mit mir."

"Einen Scheiß werde ich, Sie wissen doch sowieso schon alles von mir, was Sie wissen wollen! Du bist eine elende Petze Stegi, und Sie fressen ihm offenbar schön brav aus der Hand, was auch immer er Ihnen erzählt!", redete Dominik sich weiter in Rage und stieß seinen Stuhl zur Seite um, während er auf mich zustapfte. Ich wich vor ihm zurück. Was sollte ich tun, wenn er wieder auf mich einprügelte? "Wenn du ihm ein Haar krümmst, wirst du der Schule verwiesen!", schnitt hinter seinem Rücken Rafaels scharfe Stimme durch das Klassenzimmer und in einer flüssigen Bewegung drehte der wütende Junge um, um jetzt den Mann anzuvisieren. Er lachte, er lachte tatsächlich, als hielte er die Drohung für einen dummen Scherz. "Ach ja? Werde ich das? Wissen Sie was, Sie können mich mal! Sie haben wie alle Lehrer auch nur Ihre paar Lieblinge, die Ihnen ganz tief in den Arsch gekrochen sind! Und die, die darauf keinen Bock haben, das sind automatisch die Bösen! Sehr gut, seeehr gut. Was wollen Sie denn tun, wenn ich Ihre Lieblinge ein wenig ärgere, hm? Sie können mich nicht kriegen, ich bin viel zu schnell für Sie!"

Es geschah, was ich befürchtet hatte. Doch anstatt mit seinen Kräften flüchten zu wollen, nutzte er sie jetzt, um plötzlich hinter Pauline aufzutauchen und ihr an ihrem Flechtezopf zu zerren. Sie schrie auf vor Schmerz und Überraschung. "Oder Tobi!" Bevor ich ihn warnen konnte, hatte er ihn kräftig zur Seite gestoßen, sodass der um einiges kleinere Schüler zu Boden fiel. "Nicht-!", rief Rafael und streckte eine Hand zu Dominik aus, aber es war, wie der Junge es prophezeit hatte. Bevor man ihn zu fassen bekam, war er verschwunden und ich spürte, dass ich der Nächste war, den er jetzt demütigen würde. Unter der ersten Hand konnte ich mich instinktiv wegducken, doch die zweite erwischte mein Ohr und seine Finger krallten sich kraftvoll in meine Haut. Arrgh! Ich hörte mich selbst aufquieken und schlug verzweifelt um mich. Zu spät, schon ließ er wieder los und sein Spiel begann von vorne, zurück zu Pauline. Doch als er sie am Kinn packen wollte, gaben seine Beine plötzlich nach, als bestünden sie aus Gummi. "Wa-?!", stieß er aus und bemühte sich offenbar, seine Fähigkeit zu aktivieren, aber ohne sicheren Stand und ihm gehorchende Füße war sie nutzlos. Pauline schnaubte erbost und blaffte: "Hast du Hohlbirne immer noch nicht gelernt, dass du mich besser nicht anrühren solltest? Machs noch ein einziges Mal und ich schwöre dir, dass ich dir nicht nur deine Beine lähme!"

Während sie sich ihr Oberteil glatt strich und ihre Frisur neu ordnete, half ich Tobi dabei, wieder aufzustehen. Seine Wange sah gar nicht gut aus und an seiner Schläfe entdeckte ich eine winzige, aber tiefe Wunde, aus der gerade ein Blutstropfen quoll. In seinen hellbraunen Augen stand der Schock.

Auch Rafael stürzte jetzt zu uns, kniete sich vor meinen Freund, besah sich bestürzt seine Verletzungen und zückte sein Handy. "Tobi, kannst du mich sehen? Ist dir schwindelig?" Mit einer Hand winkte er langsam vor seinem Gesicht und atmete erleichtert auf, als der Junge ihr erst mit seinem Blick folgte und anschließend leicht benommen nickte. "Alles okay... Mir gehts gut..."

"Pauline, hast du ihn unter Kontrolle?", fragte Rafael weiter, sie bejahte über Dominiks wüste Beschimpfungen. Schnell wählte er eine Nummer. "Ich muss meine Chefs anrufen und informieren, dass ein gemarkter Schüler zu weit gegangen ist und aus dem Schulalltag genommen werden muss. Er stellt eine zu große Gefahr da. Eigentlich wollte ich Momente wie diesen verhindern..."

Ermattet raufte er sich die Haare, ehe er sich das Handy ans Ohr presste und wartete. Unsere Blicke fielen auf Dominik. Er war plötzlich ganz still geworden. Entweder war Lines Geduldsfaden gerissen und sie hatte ihn verstummen lassen, oder er war entsetzt darüber, dass Rafael seine Drohung tatsächlich wahr machte. Was würde wohl mit ihm passieren, wenn er "aus dem Schulalltag genommen" wurde? Wollte ich das überhaupt wissen? Ich schluckte. So wie es aussah, gab es jetzt kein Zurück mehr für ihn...

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