20 Die Chance

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„Dean!"

Draco zuckte zusammen. Dieser harsche Ton war für ihn immer noch fremd und er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Doch er straffte schnell die Schultern und drehte sich um, die Stimme gehörte Henry und seinen Chef sollte er auf gar keinen Fall verärgern. „Ja, Chef?"

„Hast du schon mal bedient?"

Draco erstarrte innerlich. Würde er etwa endlich in den Service wechseln dürfen? Die Arbeit als Küchenjunge war zwar in Ordnung, doch der Service war sein Traum, seit er nach London gekommen war. „Ja, habe ich", antwortete er aber nur zögerlich. Er war sich nicht sicher, was jetzt kommen würde.

„Gut, dann zieh dich um und komm nach vorne." Henry drehte sich schon wieder zum Gehen und ließ Draco völlig verwirrt zurück. Ungläubig starrte er auf die Schwingtüren, die die Küche vom Gastraum abtrennten.

„Beeil dich, Junge. Den Chef solltest du nicht warten lassen", rief ihm der Chefkoch zu und Draco löste sich aus der Starre, hetzte in den Personalraum und zog seine Küchenkleidung aus. Dann sah er sich etwas ratlos um. Was sollte er anziehen? Er hatte keine andere Kleidung außer den Sachen, in denen er am frühen Abend von seiner Wohnung hierher gefahren war. Draco zuckte mit den Schultern und schlüpfte in die schwarze Stoffhose und sein dunkelblaues Hemd. Der Weihnachtsbonus war großzügig ausgefallen und so hatte sich Draco, neben den Geschenken für Emma und seine Vermieter, eine neue Garderobe gegönnt. Die Teile waren zwar noch lange nicht so edel wie seine frühere Kleidung als Draco Malfoy, doch er konnte jetzt auch sagen, dass Dean Marshall verdammt gut gekleidet war.

Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel und einem gekonnten Griff in seine Haare eilte er an die Bar. Dort stand Henry an der Theke und mixte bereits die ersten Cocktails. Sie waren immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Barkeeper und so musste der Chef eben selbst mit anpacken. Als er Draco kommen sah, begutachtete er ausführlich sein Erscheinungsbild und nickte schließlich zufrieden. „Ja, für heute sollte das gehen."

„Sir?", fragte Draco zögerlich. Er wollte nun endlich wissen, was jetzt auf ihn zukam.

„Mel hat sich krank gemeldet", erklärte sein Chef hektisch. Der Gastraum war voll und es gab viel zu tun. „Eben erst. Sie ist auf dem Weg hierher gestolpert und hat sich böse den Knöchel verknackst. So schnell bekomme ich aber keinen Ersatz und wir sind ausgebucht. Ich verzichte lieber auf eine Küchenhilfe als auf eine Bedienung. Das ist deine Chance. Beweise dich."

Draco schluckte. Natürlich kannte er die Karte auswendig. Er hatte bereits vor Wochen angefangen, sie auswendig zu lernen. Mit Henry hatte er damals ein Gespräch geführt. Irgendwann wollte er vom Küchenjungen zur Bedienung aufsteigen. Aber Henry hatte ihn bisher immer vertröstet. Jetzt hatte er also die Chance? Aber er war unvorbereitet. Er sah seinen Chef an, doch der war schon wieder mit den Getränken beschäftigt. Gerade stellte er vier Cocktails auf ein Tablett. Das schob er Draco zu und meinte kurz angebunden: „Tisch drei. Na los, worauf wartest du?"

Das ließ sich Draco dann aber doch nicht zweimal sagen. Er richtete sich auf, griff das Tablett und ein elektronisches Bestellpad und ging zügig zu Tisch drei. Dort saßen vier junge Leute, etwa in Dracos Alter, offensichtlich waren es zwei Pärchen. Draco trat an ihren Tisch und begutachtete schnell die Cocktails. „Einen wunderschönen guten Abend. Der Mai Tai?" Das Mädchen auf der linken Seite hob die Hand, Draco stellte den Cocktail vor ihr ab. „Ein Strawberry Colada?" Wie zu erwarten hob das andere Mädchen die Hand. „Ein Caipirinha?" Der Junge neben dem Mai Tai-Mädchen meldete sich. „Und der Long Island Ice Tea ist dann für Sie. Zum Wohl! Haben Sie bereits Ihre Speisen gewählt?" Draco zückte das Pad für die elektronische Bestellerfassung, das er sich glücklicherweise vor ein paar Tagen von Shelly hatte erklären lassen, und tippte die Bestellungen seiner ersten Gäste ein.

~~~*~~~

Neun Stunden später fiel Draco völlig erschlagen auf sein Bett bei den Sharmas. Er war vollkommen fertig. Sechs Stunden hatte er als Bedienung gearbeitet, dann beim Putzen und Aufräumen geholfen, seine Kasse gezählt und hatte sich dann in den Bus gesetzt, um nach Hause zu fahren. Jetzt war er am Ende seiner Kräfte. Doch der Gedanke an seine Kasse ließ ihn sich noch einmal aufrichten. Bei der Abrechnung hatte er lediglich die Einnahmen und das Wechselgeld gezählt. Das Trinkgeld, das noch in seinem Geldbeutel gewesen war, hatte er ohne weitere Beachtung eingesteckt. Das war bei Henry so üblich. Die Bedienungen behielten ihr Trinkgeld direkt. Das war mit in das Gehalt eingeplant. Aber jetzt wollte Draco wissen, wieviel es tatsächlich war. Er zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, leerte ihn auf dem Bett aus und begann zu zählen.

Als er fertig war, atmete er tief durch und fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare. Mit so viel hatte er nicht gerechnet. Er starrte auf die kleinen Geldhäufchen auf seiner Bettdecke. Vor ein paar Tagen hatte er mit seinen Kollegen in der Pause ein Gespräch gehabt. Sie hatten ihn gefragt, wie er zur Arbeit kam und er hatte von seiner Busfahrt erzählt. Er musste dreimal umsteigen und brauchte für die Strecke mitunter bis zu anderthalb Stunden. Die anderen hatten den Kopf geschüttelt und ihm vorgeschlagen, doch einen Roller zu kaufen. Draco hatte sich danach informiert, was für ein Ding so ein Roller war. Sofort hatte er den Nutzen für sich erkannt. Also hatte er beschlossen, auf einen Führerschein und einen Roller zu sparen. Das Trinkgeld des heutigen Abends würde auf jeden Fall in seine „Rollerkasse" wandern.

Er klaubte die Geldhäufchen zusammen und warf sie in die kleine grüne Spardose, die ihm Mrs. Sharma geliehen hatte. Das Geräusch, das die Münzen verursachten, als sie auf dem Boden der Blechdose aufschlugen, ließ ihn glücklich lächeln.

Langsam zog er sich aus und malte sich in Gedanken bereits seinen Roller aus. Grün sollte er sein, mit silberfarbenen Applikationen. Er musste grinsen. Einmal Slytherin, immer Slytherin. Ob Harry auch immer noch rot bevorzugte?

Ärgerlich schüttelte er seinen Kopf. Immer wieder dieser Potter. Und seit wann nannte er diese Landplage gedanklich beim Vornamen?

Nur mit seiner Boxershorts bekleidet, legte er sich in sein Bett und versuchte, die Gedanken an Potter zu vertreiben. Doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Immer wieder glitten sie zurück zu dem Goldjungen und unwillkürlich fragte sich Draco, ob Harry vielleicht auch an ihn dachte. Über diesen Gedanken schlief er schließlich erschöpft ein.

Seelenverwandt (Drarry)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt