Kapitel ⇴1

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»Nein, es war Selbstmord. Sie hatte einen Ehemann, doch dieser hatte offenkundig eine Affäre und sie hat es höchstwahrscheinlich herausgefunden. Außerdem hatte sie Depressionen nach ihren Selbstverletzungen zu urteilen und natürlich das Antidepressivum das dort stand. Die Schusswunde ist Rechts und sie war Rechtshänder, nicht zu vergessen waren die Fenster und Türen abgeschlossen. Und das eine Fenster, was kaputt war, war schon eine ganze Weile kaputt. Einen Balkon hatte sie nicht und so oder so gibt es keinen einzigen Beweis für einen Einbruch geschweige denn einen Mord.« Ratterte Sherlock schnell in einer neutralen Tonlage herunter, worauf Lestrade nur Nicken konnte.
Sherlock jedoch ging ohne ein weiteres Wort weg und schüttelte den Kopf.
»Wie kann man so etwas Offensichtliches denn übersehen?« Dachte er laut und leicht genervt, nachdem John zu ihm geeilt war. »Sie haben es vielleicht gar nicht übersehen. Das kaputte Fenster hat vielleicht zum Nachdenken angeregt und sie wollten auf Nummer sicher gehen.«
»Trotzdem. Ich dachte, der Fall würde spannend werden.« Murmelte Sherlock eingeschnappt, den Blick auf dem Gehweg klebend. Er vergrub die Hände tiefer in seinen Manteltaschen und runzelte die Stirn.
John wusste das Sherlock mit Langeweile gar nicht gut auskam, doch er wusste dennoch nicht was er gegen diese Langeweile unternehmen konnte.
»Haben Sie Hunger?« Fragte John nach einer ganzen Weile und sah zu Sherlock hoch.
Dieser nickte fast unerkennbar.
Zwar aß Sherlock nicht wirklich viel und manchmal auch einfach gar nichts, doch insgeheim freute er sich auf die Frage die gleich kommen würde.
»Wollen wir vielleicht zusammen was essen gehen? Das haben wir doch lange nicht mehr gemacht, oder?« Fuhr er fort und lächelte unschuldig, als Sherlock ihn durch seine blauen, cleveren Augen endlich ansah.
»Gerne.« Erwiderte dieser, ohne jegliche Freude in seiner Stimme und wandte sich mit dem Blick schnell wieder von John ab.

Nicht weit vom Tatort entfernt tauchte auch schon das erste Restaurant auf.
John lächelte fast ununterbrochen, als sie beide gemeinsam bestellt hatten und aßen. Sichtlich genoss er das Beisammensein mit seinem besten Freund.
Sherlock jedoch kümmerte dies herzlich wenig, stattdessen schien er nicht ganz anwesend zu sein, was John nach einiger Zeit auch endlich auffiel.
»Worüber denken Sie denn die ganze Zeit nach?« Fragte der kleinere nun endlich und starrte Sherlock interessiert an, welcher ihm jedoch keines Blickes würdigte.
»Mh? Ach nichts, nur... nur über den Fall.« Bastelte sich Sherlock schnell eine Lüge zusammen und versuchte keinerlei Emotionen zu zeigen, als er merkte wie der Schmerz sich wieder über seinen ganzen Rücken zog. Wie er das hasste.

John durch schaute die Lüge natürlich schnell und schlussfolgerte daraus, das Sherlock wahrscheinlich gerade einfach nicht in der Stimmung war zu reden und so aßen sie einfach schweigend weiter, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.
Sherlock überlegte angestrengt, wo er heute Nacht hingehen konnte und in Johns Kopf drehte sich alles nur um sein gegenüber, da er irgendwie das Gefühl hatte etwas Falsches gemacht oder gesagt zu haben.

Später war es nicht anders.
Sherlock war auffällig still und schien die ganze Zeit nachzudenken.
Und ja, es war anders als sein normales Verhalten. Das erkannte John, auch wenn er sich nicht so ganz sicher war.
"Ist denn wirklich alles okay?"
John wollte diese Frage schon den ganzen Abend stellen, doch erst als sie zu Hause ankamen, traute er sich wirklich zu fragen.
"Ja? Was soll denn sein?" Entgegnete Sherlock ihm nur, ohne von seinem Buch aufzustehen.

Nein. Nichts ist okay John. Ich habe täglich Schmerzen, die du dir gar nicht ausmalen könntest.

John zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und verschwand in sein Zimmer. Er wusste das etwas nicht stimmte, doch irgendwann gab auch er es auf sich um seinen Mitbewohner zu sorgen. Wenn er ein Problem hatte, würde er schon reden.
Sherlock seufzte derweil erleichtert auf, als er das dumpfe zufallen von Johns Tür hörte.
Doch nicht lange konnte seine Erleichterung andauern, da der Schmerz in seinem Rücken sich wieder meldete. Diesmal sehr viel heftiger als die restlichen Tage zuvor.
»Nicht... hier...« Stöhnte Sherlock qualvoll, mit zusammen gekniffenen Augen und unter Schmerzen, bevor er sich am Boden krümmte.
Er hatte keine andere Wahl als aus der Wohnung raus zustürmen und inständig zu hoffen das John und Mrs Hudson nichts davon mitbekamen.

Langsam ließ Sherlock sich an einer rauen Wand in einem nicht ganz so vollen Viertel von London heruntergleiten. Der dunkle Mantel und die dunkle Wand hinter ihm schienen zu verschmelzen, es war der perfekte Ort.
Er atmete schwer Wölkchen in die Nächtliche, kalte Luft hinaus und sein Herz klopfte mit jedem Schlag heftiger.
Der erschöpfte Detektiv ist gefühlt durch die halbe Stadt gerannt, als er merkte wie er es nicht länger unter Kontrolle haben konnte.
Und keine Sekunde später hörte man ein lautes Windrauschen, bevor Sherlock seufzend wieder aufstand und eine unglaubliche Entlastung von seinen Schultern fiel.
Er schloss die Augen, warf den Kopf in den Nacken und atmete einmal tief aus.

Seine dunklen Locken wehten leicht im sanften, kalten Wind genauso wie seine schneeweißen Federn im Muster einer Schneeeule sich sachte mit der kalten Brise bewegten.
Die gewaltigen Flügel, die er jetzt schon über Tage hinweg unterdrücken musste, entfalteten sich nun komplett und nahmen fast die ganze, dunkle Seitengasse in Beschlag.
Das einzige, was ihm nun Licht spendete, war die kleine, erschöpfte Straßenlaterne über ihm, die spärlich ihr letztes Licht aussendete, müde flackerte und schließlich eins mit der dunklen Nacht wurde.

Sherlock zog die Luft scharf ein, als ihm dieses wohlige Gefühl durch Mark und Bein ging. Jedes Mal, wenn er seine Flügel eine längere Zeit lang nicht ausbreiten konnte und es dann endlich doch tat, kribbelte sein ganzer Körper, bevor sich eine angenehme Wärme überall in ihm breit machte.
Die riesigen, flauschig weichen Federm streckte er ein wenig in die Höhe und mit einem kräftigen Abstoßen vom Boden flog er gerade Wegs auf ein beliebiges Dach eines hohen Gebäudes zu, nachdem seine Flügel ihn hoch über London hinweg getragen hatten. Sofort erkannte Sherlock das dieses Gebäude in der Crawford Street stand. Nicht weit weg von der Bakerstreet.

Langsam ließ er sich vorsichtig auf die Mitte des steinernen Daches nieder und legte sich auf den Rücken.
Die samtigen zwei Flügel lagen ebenfalls komplett ausgebreitet unter ihm und reichten fast über das relativ kleine, flache Dach hinaus, so groß waren sie.

Zitternd von all den Gefühlen die nun alle auf einmal hochkamen lag er da.
Der Detektiv, Sherlock Holmes, der kein bisschen ans Übernatürliche glaubte, war selbst ein vollkommen realer Engel.





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𝘮𝘢𝘥𝘦 𝘧𝘰𝘳 𝘭𝘰𝘷𝘪𝘯𝘨 𝘺𝘰𝘶 ʲᵒʰᶰˡᵒᶜᵏWo Geschichten leben. Entdecke jetzt