Der Engel hatte sich am Ende seiner Kräfte in der bitteren Nacht bis nach London durchgeschlagen. In einer Seitengasse neben einem Club, aus dem lautstark Musik dröhnte, fand er einen billigen Heiligen Schein an einem Draht, den er sich schnell auf den Kopf steckte. Wenn er nun die Flügel starr hielt würde man denken es wäre nur eine echt miese Verkleidung. Und so schleppte er sich, am ganzen Leib tropfend Nass und frierend bis zu dem riesigen Gebäude durch, das nun seine einzige Zuflucht war.
»Sherlock?« Eine besorgte, aufgebrachte und doch vertraute Stimme ertönte in Sherlocks Ohren, in welchen er seit ein paar Minuten nur noch ein betäubendes Piepen hörte.
»Mycroft, ich brauche...« Von der einen auf die andere Sekunde klappte Sherlock in sich zusammen. Sofort kam sein Bruder im Nachthemd die Treppe heruntergestürzt und spürte seinen Puls.
»Oh, Bruder, was machst du nur?« Seufzend breitete auch er seine Engelsflügel im Muster einer Schleiereule aus und stützte so sich selbst, dass er den bewusstlosen Sherlock hochheben konnte. Er legte ihn auf ein frei stehendes Bett in einem privaten Zimmer und sah sich die verbrannte Flügelspitze an. Er selbst konnte nichts unternehmen, weswegen er schnell eine vertraute Ärztin aus dem Schlaf weckte, die sich den verwundeten Engel sofort ansah.
Sie hieß Cathryn und war schon sehr lange mit der Geschichte der Holmes und ihrer geflügelten Kinder vertraut. Eine Schneeeule, eine Elster und eine Schleiereule, allesamt stolze Engel. Was ein Trio.
Ihre Handgriffe und Bewegungen waren geübt und vorsichtig, trotz das es mitten in der Nacht war. An dem Flügel konnte sie leider nichts mehr retten, die Federn waren zum Teil bis auf die Knochen heruntergebrannt, zum Glück nur an einer recht kleinen Stelle. An den Stellen, die noch zu Retten waren, verteilte sie ihre "Wundersalbe" und verband das Stück verletzten Flügel so gut es ging.
Mycroft wurde beauftragt die Stelle unter dem Verband möglichst lauwarm zu halten, Unterkühlung war nämlich ein viel größeres Problem, vor allem, nachdem sich Sherlock so schnell in eiskaltem Wasser gestürtzt hatte.
Derweil kühlte sie die Prellung im Schulter und Brust Bereich und sah sich seinen Oberkörper an. Er war übersät von blauen Flecken, die allerdings momentan mit der Salbe, mit der sie sie eincremte, nicht unbedingt ein Problem darstellten.
»Das einzige, was Sie jetzt tun können ist warten, Mr Holmes. Er hat keine Brüche aber die Flügelspitze macht mir zu schaffen, es scheint nicht als könne man sie retten.« Sie lächelte mitleidig und wand sich zur Tür. »Passen Sie gut auf Ihren Bruder auf.« Mycroft nickte bedrückt und bedankte sich höflich als Cathryn den Raum verließ um die Familie alleine zu lassen.Stunde um Stunde verging, Mycroft saß im Halbschlaf auf einem Stuhl direkt neben Sherlock, bis dieser nun endlich seine Augen öffnete und sich mit pochenden Kopf umsah. »John?«
»Du bist fast gestorben und fragst nach deinem kleinen Goldfisch?« Empört stand Mycroft auf und sah mit gerunzelter Stirn auf seinen Bruder herunter, der allerdings nur mit den Schultern zuckte. Der Ältere seufzte auf. »Er ist in der Bakerstreet. Ich habe mich darum gekümmert.«
»Danke.« Murmelte Sherlock mit schwacher Stimme, sah an sich herunter und wanderte mit dem Blick auf seine verbundene, schmerzende Flügelspitze. Er hob sie vorsichtig an und starrte die kleine, völlig verbrannte Stelle an. Eine Träne rollte seine Wange herunter, die er sofort wieder weggewischte. Mycroft sah mitleidig auf seinen leidenden kleinen Bruder herunter. Er wusste wie sehr er seine Flügel hasste, aber auch gleichzeitig liebte. Es war eine 50/50 Chance, ob er jetzt überhaupt noch fliegen konnte.
»Wann kann ich wieder zurück?« Durchbrach Sherlock die lästige Stille nach einiger Zeit. »Sobald du stark genug bist deine Flügel zu verstecken, natürlich.« Antwortete Mycroft wie der Blitz und ging langsam aus der Tür heraus. »Bis Morgen.«
Was ein Wunder, dass das Bett leer war, als der große Bruder Morgens wieder das Zimmer betrat.John seufzte überglücklich auf, als er die dünne Tür zu Sherlock's Zimmer einen Spalt breit öffnete und durch diesen Spalt hereinschlüpfte um seinen Detektiv nicht mit dem Licht von draußen zu wecken. Er war eine Nacht und einen halben Tag nicht zurückgekehrt nach dem Vorfall. Als John vom Einkaufen zurückkam, sah er den Mantel dort hängen.
Tatsächlich nahm er an das Sherlock schlief, jedoch lag dieser zusammengekauert, wie eine kleine Katze, auf einem viel zu großem Bett und drückte eine Hand auf seinen Mund, um kein schluchzen herauszulassen. Doch so einfach ging das nicht, wie aus Reflex schluchzte Sherlock bitterlich auf und bekam sofort Johns volle Aufmerksamkeit.
Er ging vorsichtig aufs Bett zu, nicht sicher was er da gerade gehört hatte und ließ ein wenig Licht durch die Vorhänge hinein.
»Sherlock...« John hätte es niemals für möglich gehalten das er ihn jemals so sehen wird, geschweige denn das Sherlock dazu fähig war. Er sah so gequält aus, so zerbrechlich und dennoch... dennoch lächelte er dem kleineren zu.
»John.« Brachte Sherlock heraus und sah auf.
Dem Angesprochenen überkam ein Schauer als er die Stimme seines Mitbewohners hörte.
Sie klang so anders als er es gewohnt war. Unbeschreiblich emotional aber vor allem leidend.
Sofort kam John dem Bett näher und hielt Sherlock eine Hand hin. Dieser ergriff sie zögernd und wurde sofort von seinem besten Freund in seine Arme gezogen.John wusste das Sherlock jetzt nicht reden wollte, doch die Umarmung sprach sowieso schon Bände.
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𝘮𝘢𝘥𝘦 𝘧𝘰𝘳 𝘭𝘰𝘷𝘪𝘯𝘨 𝘺𝘰𝘶 ʲᵒʰᶰˡᵒᶜᵏ
FanfictionEr hatte es nicht unter Kontrolle. Immer und immer wieder musste Sherlock Holmes, der vermeintlich gefühlskalte Consulting Detective aus London seinen unwissenden Mitbewohner in der Nacht verlassen, nur um früh am Morgen wiederzukommen. Kein Schlaf...