Der Tag an dem ich Wes weinen sah, war der wohl beste Tag in meinem Leben.
Ich liebe es bei Kinofilmen bis zum Schluss zu bleiben, erst wenn die Leinwand wieder weiß ist, die Lichter an und nur noch dieses Surren von den Projektoren die abkühlen müssen übrig ist, erst wenn die ersten Mitarbeiter beginnen den Saal zu räumen und verlorenes Popcorn und zurückgebliebene Behälter aufzusammeln, erst dann ist der Film für mich vorbei. Niemand bleibt so lange sitzen, deswegen gehe ich auch prinzipiell allein ins Kino. Nicht dass ich eine Menge Freunde hätte, die sich darum reißen würden mit mir ins Kino zu gehen, da waren bloß Linda und Kai, die sich beide bloß blutige Horrorstreifen im Kino reinzogen.
Und nachdem ich mir gerne Filme ansah die mehr als nur den Teil im Hirn beanspruchten um mir einen Adrenalinstoß nach dem anderen zu versetzen, saß ich prinzipiell alleine im Saal, am liebsten in der dritten Reihe rechts, Platz 16. Karl an der Kasse wusste das bereits und hielt das Ticket für mich zurück, wenn das Kino besondere Filme zeigte.
Doch an diesem Freitagabend, als ich mich gerade vollends zufrieden aufmachte und die Stufen zum Ausgang hinaufschlendern wollte, war ich zum ersten Mal nicht allein.
Ein Rascheln ließ mich erstaunt hinauf zur letzten Reihe blicken, wo ganz im Eck eine Person aufsprang und versuchte unsichtbar zu werden. Er sammelte seinen Becher und eine rote KitKat Verpackung ein und sprang gehetzt die Stufen runter in meine Richtung, Richtung Ausgang. Ich blieb erstarrt stehen und beobachtete wie Wes, ein Junge aus meiner Schule – nein, DER Junge aus meiner Schule – alleine aus dem Saal stürmte. Er war deswegen DER Junge, weil er wie der High School Quarterback aus einem Film war. Er spielte zwar kein Football, sondern war der Star des Schwimmteams, aber alles Andere stimmte überein. Er war groß, muskulös und hatte karamellfarbenes Haar, das immer genau das tat, was Haare machen sollten. Mal standen sie gekonnt verstrubbelt von seinem Kopf ab, mal fielen ihm ein paar Strähnen verspielt in die Augen und manchmal, wenn er gerade vom Training kam und noch Wassertropfen auf ihnen glitzerten und von seinen kleinen Locken perlten, ließen sie ihn aussehen wie ein junger Gott des Meeres. Nicht dass ich für Wes schwärmte, ganz im Gegenteil, eigentlich war er mir im Grunde egal, doch jemand der so gut aussieht fällt nun mal auf.
Mehr wusste ich eigentlich auch nicht von ihm, ich wusste dass er beliebt war und immer von vielen Leuten in der Schule umgeben, aber ich wusste weder wie seine Noten waren, oder wie sich seine Stimme anhörte wenn er ruhig sprach, ich kannte sein Lachen nicht, wusste nicht wo er wohnte, oder ob er eine Freundin hatte. Er war mir egal. Bis er vor mir aus dem Kino flüchtete.
Als er die große Tür erreichte stopfte er hastig seinen Müll in die schwarze Tonne, ein bisschen zu hastig, denn das rote Papier glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Er bückte sich und griff danach und da passierte es. Seine Geldbörse fiel aus seiner Tasche ohne dass er es bemerkte. Er blickte verstohlen zu mir, sah dass ich ihn anstarrte und zuckte zurück, stolperte beinahe über seine eigenen Beine und rannte aus dem Saal.
Ich stand einfach nur da, ein Bein auf der nächsten Treppe, die Hände um meinen Popcornbecher gekrallt und wusste nicht, worüber ich gerade mehr erschrocken war, die Tatsache dass er alleine in diesem Film war, die Tatsache dass er seinen Geldbeutel verloren hatte oder die Tatsache, dass seine Augen rot vom Weinen waren. Erst als Karl den Saal betrat um für die nächste Vorstellung aufzuräumen, erwachte ich wieder zum Leben. Er wollte gerade nach dem Geldbeutel greifen, als ich mich rufen hörte: „Nein, stopp! Ich mach das schon! Ich weiß wem er gehört!", dann rannte ich die restlichen Treppen hoch, zupfte ihm das Portemonnaie aus der Hand und ließ ihn verdutzt zurück, während ich hinaus auf den Parkplatz lief und mich hastig umsah. Ich wusste nicht ob und welches Auto Wes besaß. Doch die Auswahl war auch nicht schwer zu treffen, denn der Parkplatz war leer.
Ratlos sah ich mich um. Was sollte ich denn jetzt machen? Es ihm in der Schule zurückgeben? Ausgeschlossen. Ich mochte mein Leben unter dem Tarnumhang des Uninteressantseins.
Es ihm zu Hause vorbeibringen? Auch nein. Ich wollte nicht wie ein Stalker wirken, außerdem hatte ich auch keine Ahnung wo sein zu Hause war.
Ins Kino wollte ich es auch nicht zurückbringen, Karl würde mich wahrscheinlich für verrückt halten und Verrückte bekamen keine Wunschkarten reserviert und extra Butter ohne Berechnung aufs Popcorn.
Ich beschloss es erstmal mit nach Hause zu nehmen und mir dort zu überlegen wie ich es ihm zurückgeben sollte. Ich packte das Portemonnaie sorgfältig in meine Jacke, setzte meine Mütze auf und schwang mich auf mein Fahrrad.
Als ich auf die große Brücke, kurz vor unserer Hauseinfahrt zustrampelte, sah ich Blaulicht. Neugierig geworden erhöhte ich mein Tempo und versuchte zu erkennen was passiert war. Tatsächlich war einfach nur ein Raser gestoppt worden. Ein schwarzer Audi stand neben dem Polizeiwagen am Straßenrand. Ich wollte gerade weiterfahren, als ich die Person die aus dem Wagen stieg erkannte. Es war schon wieder Wes!
„Sie muss hier irgendwo sein, ich hatte sie gerade eben noch! Es tut mir leid, bitte rufen Sie sie nicht an. Bitte.", seine Stimme überschlug sich beinahe und klang rau.
Ich blieb am Rande des Geschehens stehen und hörte den Polizisten sagen: „Wenn du deinen Führerschein nicht mithast und dich auch sonst nicht ausweisen kannst, müssen wir deine Mutter anrufen Junge, du bist minderjährig und zu schnell gefahren. Irgendwer muss die Strafe bezahlen.".
In diesem Moment überraschte ich mich selbst. Ich sprang vom Fahrrad, das scheppernd zu Boden fiel, riss die Geldtasche aus der Jackentasche und rief beinahe hysterisch „Hier, ich hab seine Geldtasche, hier ist sie!"
Die beiden Polizisten und Wes fuhren herum. Wes der seine Geldtasche erkannte ließ überrascht die Kinnlade fallen und gaffte mich mit offenem Mund an.
„Ja, das ist meine.", stammelte er und streckte die Hand danach aus.
Die beiden Polizisten sahen verwundert zwischen uns hin und her.
„Du hast sie im Kino verloren und warst so schnell weg, dass ich sie dir nicht geben konnte.", hauchte ich atemlos, denn mein kleiner Sprint auf dem Rad hatte meine nicht vorhandene Kondition gefordert.
Beim Stichwort „schnell" kam wieder Leben in den Polizisten der neben Wes stand. „Na dann kannst du dich jetzt ja ausweisen.", sagte er barsch zu ihm.
Wes starrte mich noch immer verwundert an und zog geistesabwesend seinen Führerschein aus der Geldbörse und reichte ihm dem Polizisten ohne mich aus den Augen zu verlieren.
Er sah mitgenommen aus, Schweiß glitzerte auf seiner Stirn, seine Nase und seine Augen waren gerötet, doch im Scheinwerferlicht und dem Nebel der uns umgab sah er wie eine übermenschliche Erscheinung aus. Seine Augen waren schwarz, ich erkannte Bartstoppel auf seinen Wangen und seinem Kinn und jeder Wimpernschlag seiner Augen schien ewig zu dauern.
„Herr Toner, für Ihre Geschwindigkeitsüberschreitung haben Sie ein Bußgeld in Höhe von 50 Euro zu zahlen.", riss der Polizist uns aus unserem Starrkontest. Wes zuckte mit den Schultern, zog einen Schein aus dem Beutel und reichte ihm dem Polizisten wortlos. Jetzt war ich es, die verdutzt schaute. 50 Euro waren doch keine kleine Summe. Doch Wes juckte der Betrag scheinbar wenig, denn er nahm den Strafzettel mit der Quittung ungerührt entgegen und steckte ihn achtlos in seine Manteltasche.
Ich bemerkte, dass ich meinen Soll erfüllt hatte und eigentlich nur die letzten 150 Meter nach Hause auf mich warteten, drehte mich abrupt und peinlich berührt um und hob mein Fahrrad vom Boden auf. Ich trat so fest ich konnte in die Pedale um diesen merkwürdigen Abend hinter mir zu lassen. Leise hörte ich Wes etwas rufen, doch ich war zu verstört um mich noch einmal umzudrehen.
Mein Vater schlief bereits, also machte ich mir leise eine Tasse Tee, kuschelte mich in meinem Zimmer auf meine geliebte gepolsterte Fensterbank und schlug das Buch auf, dass ich gestern begonnen hatte.
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Wenn Wes weint
Teen FictionSie ist unscheinbar und unbedeutend, er ist laut und wild. Als sie ihn weinen sieht kollidieren ihre Welten auf unerwartete Weise. Sophie ist der Meinung dass mit ihr etwas nicht stimmt, irgendetwas macht sie anders. Aus diesem Grund hält sie sich...