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Der Tag an dem ich wieder zur Schule ging, fing damit an, dass ich mit meinen Haaren im Reißverschluss meiner Jacke hängen blieb. Unter Fluchen und Tränen konnte Maja mich letztendlich nur befreien, indem sie die große Küchenschere zur Hilfe nahm.

„Das wird furchtbar aussehen.", schluchzte ich, als sie versuchte die Schere so knapp sie konnte über dem Reißverschluss anzusetzen.

„Das wird gar nicht auffallen!", antwortete sie.

Ich blickte sie zweifelnd an, denn besonders überzeugend hatte das nicht geklungen.

„Ich zähle bis drei.", fuhr sie unbeirrt fort.

Als sie bei zwei angekommen war, schloss ich die Augen und kniff die Lippen zusammen. Meine Haare waren mein Heiligtum, lang, seidig, dick und wuschelig. So wie die meiner Mutter.

Die Schere machte ein furchtbares Geräusch als sie das Haar Strähne für Strähne durchtrennte und bei jedem „Rrrrtsch" schluchzte ich erneut auf.

Maja sagte nichts, als sie ihr Werk begutachtete, sie blickte mich einfach nur mit großen Augen an.

Ich stürmte zum Spiegel und wimmerte. Auf der linken Seite hatte ich eine Kante von 5 cm die deutlich sichtbar war. Ich sah aus wie eine von Lindas alten Barbies, entstellt und zerrupft.

„Wenn du sie zusammenbindest, fällt das niemandem auf.", Maja legte mir die Hand auf den Rücken und strich beruhigend auf und ab, „und heute Nachmittag überlegen wir was wir tun können!".

Sie zupfte ein Haargummi von meiner Kommode, fasste meine Haare zusammen und band sie hoch. „Alles halb so schlimm Sophie, es sind nur Haare.".

Doch es waren nicht nur Haare, es war ein weiterer Punkt auf meiner Liste der Unsicherheit. Ein weiteres Merkmal an mir, das seltsam war und Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich überlegte ob ich nicht lieber doch noch ein paar Tage zu Hause bleiben sollte, als es an der Tür klingelte.

Kai und Linda hatten es sich nicht nehmen lassen, mich gemeinsam mit ihrer Mutter abzuholen. Wes hatte zwar etwas gekränkt reagiert, als ich ihm am Vorabend mitgeteilt hatte, dass ich mit den Geschwistern zur Schule fahren würde, aber er hatte sich schnell wieder eingekriegt, als ich ihm erklärte, dass ich die beiden in letzter Zeit viel zu kurz kommen ließ und das nur wegen ihm.

Doch als ich mich auf die enge Rückbank des Fiat500 zu Kai gequetscht hatte, wünschte ich mir sehnsüchtig Wes an meine Seite. Es vergingen nicht einmal drei Sekunden bis er meine Misere entdeckte. Ich nippte gerade höflich an meinem Auberginen-Radischen-Bananen-Smoothie, den mir Kais und Lindas Mutter freudig in die Hand gedrückt hatte, als es auch schon aus ihm herausbrach.

„Oh. Mein. Gott.", hauchte er und starrte entsetzt auf die dicke Strähne in meinem Zopf, die deutlich kürzer war als der Rest meiner Mähne.

Ich biss mir in die Wangeninnenseite um nicht sofort wieder loszuheulen und starrte auf meine Stiefelspitzen. Linda drehte sich neugierig vom Vordersitz zu uns um und quiekte leise, als sie bemerkte worauf Kai gerade so theatralisch reagiert hatte.

„Bitte..", hauchte ich wortlos und hoffte, meine beste Freundin habe genug Feingefühl um mich zu verschonen. Und Linda war nicht umsonst die allerbeste beste Freundin die man haben konnte.

„Ich flechte dir nachher einen Fischgrätenzopf in der Schule.", ich blickte sie dankbar an, „Dann sieht man das gar nicht mehr.".

Als wir aus dem Wagen kletterten, legte mir Kai plötzlich seinen Schal um die Schultern, fragend sah ich ihn an. Sein Schal war normal ein wichtiges Accessoire zu seinem Outfit, den er nicht einfach so abnahm, solange nicht die Jacke und die passenden Handschuhe ebenfalls ausgezogen waren.

„Da wartet jemand auf dich!", raunte er und grinste breit. Mein Herz klopfte ein bisschen schneller und ich blickte hastig zum Eingang um Wes ausfindig zu machen, doch zu meiner Überraschung stand da Tristan.

Ich hatte ihn in letzter Zeit eher abgewimmelt und versucht an der kurzen Leine zu halten. Er war wirklich nett und süß und sah umwerfend aus, aber ich hatte in den letzten Tagen keinen Platz gehabt um mich mit ihm auseinander zusetzen, Fragen zu beantworten die ich nicht gestellt bekommen wollte und mich dann in der Schule schlecht zu fühlen, wenn ich neben ihm sitzen musste. Doch da stand er, ganz allein, ohne seine Clique, ohne Wes und blickte mich unverwandt an.

Als ich die letzte Treppe zum Eingang erklommen hatte rührte er sich, Linda wollte weitergehen als ich langsamer wurde, doch ich hielt sie am Jackenärmel fest. „Bleib da.", zischte ich und sie blieb stirnrunzelnd stehen.

Tristans Lächeln war unsicher, aber aufrichtig. „Wes hat gemeint du kommst heute wieder.", er machte einen großen Schritt auf mich zu, „Ich wollte mich bei dir bedanken.".

Verwirrt legte ich den Kopf schief: „Bedanken?".

„Wir hatten vor vier Tagen den ersten Geschichte Test bei der Gunther.", jetzt strahlte er, „Ich hab' eine zwei! Nur wegen dir.".

Plötzlich schlang er seine Arme um mich und drückte mich an sich, „Danke Sophie. Du bist die Beste! Mein Vater hat mir zur Belohnung sogar mein Taschengeld erhöht!".

„Ehm..", nuschelte ich benebelt, er hielt mich immer noch in seinen Armen und sein Duft machte mich ganz schwammig im Kopf. Tristan roch ganz anders als Wes. Er roch nach frischer Wäsche, ein bisschen nach Zimt und Kaugummi. Es war ein angenehmer Duft, leicht und frisch, passend zu seiner Person. Ich entspannte mich ein bisschen und atmete tief ein.

Als er mich losließ taumelte ich für einen Moment benommen und lief knallrot an.

„Als Dankeschön würde ich dich gerne einladen.", er wirkte ein bisschen nervös, oder bildete ich mir das ein?

„Ich meine, das letztens, das...", er stotterte und ich verkrampfte mich. „Ich meine, wenn du überhaupt noch möchtest und dein V..", er stockte und sah hilflos zu Linda, die stumm neben mir stehen geblieben war und uns gespannt anstarrte, als würde sie sich eine Seifenoper reinziehen.

„Du willst sie fragen ob sie nochmal mit dir ausgeht, nachdem das letztens leider in so einem Desaster geendet hat.", Kai legte seinen Arm um seine Schwester, als er zu uns trat und grinste breit.

„Sie geht gerne ins alte Kino.", fügte er frech hinzu, als Tristan scharf die Luft einzog bei seinen Worten. Plötzlich kroch ein Kichern meine Kehle hinauf und bevor ich mich stoppen konnte begann ich laut zu lachen. Ich lachte so laut auf, dass sich sogar Leute nach uns umdrehten, meine Schultern bebten und ich japste laut auf. Die letzten Wochen waren so absurd gewesen, dass es gut tat Kais Leichtigkeit so um die Ohren gefegt zu bekommen, dieses Lachen fühlte sich so befreiend an, dass ich übermutig wurde und Tristan breit angrinste.

Sofort grinste er zurück: „Also dann am Freitag im alten Kino!", er nickte Kai zu, „Bis später in Englisch! Ich muss zum Schwimmen!". Mit diesen Worten ließ er uns stehen und mich verdattert zurück. Wollte ich ihn nicht eigentlich auf Abstand halten? Und jetzt hatte ich plötzlich NOCH ein Date mit ihm?

Die beiden Geschwister bemerkten nicht wie überrumpelt ich war, denn Linda schnappte sich meinen Arm und zog mich mit sich: „Komm schon, wir müssen noch deinen Zopf flechten, du kannst nicht den ganzen Tag mit diesem Schal rumlaufen!".

Auf dem Mädchenklo positionierte sie mich in eine der Kabinen, während sie emsig an meinen Haaren herumzupfte. „Tristan ist echt nett.", sagte sie plötzlich. Ich blickte hoch, worauf sie meinen Kopf nach unten drückte und mich ermahnte still zu halten. Ich blieb einfach stumm sitzen und erwiderte nichts. Sollte ich am Freitag behaupten, dass ich krank geworden war? Oder dass ich zu Paps ins Krankenhaus musste? Oder sollte ich einfach hingehen? Vielleicht würde mir das helfen, um mir Wes aus dem Kopf zu schlagen, dachte ich. Vielleicht konnte ich mich genauso einfach in Tristan verknallen wie in Wes und dann mit Wes einfach nur eine entspannte platonische Freundschaft führen. Er hatte heute nicht auf mich gewartet, ohne viel darüber nachzudenken, hatte ich mir anscheinend erwartet, dass er es tun würde. Was er wohl stattdessen gemacht hatte? War er die ganze Woche bei seinen Freunden am Parkplatz abgehangen und hatte bemerkt, dass es so viel lustiger war, als mit mir, der schrulligen, antisozialen kleinen Person durch die Gegend zu laufen? Ich badete mich ausgiebig in meinen Selbstzweifeln, bis Linda mich aus meiner Gedankenblase riss. „Fertig.", verkündete sie stolz und bugsierte mich vor einen der Spiegel an den Waschbecken.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 25, 2019 ⏰

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Wenn Wes weintWo Geschichten leben. Entdecke jetzt