Kapitel 2

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Langsam öffnete ich meine Augen und schrak derart zusammen, dass mir fast mein Handy aus der Hand fiel. Vor mir stand ein recht großgewachsener Kerl, ungefähr in meinem Alter mit blonden Haaren und blauen Augen, aus denen er mich mit einer Mischung aus Mitleid und Besorgnis ansah. Perplex stellte ich meine Musik leiser und zog mir einen meiner Stöpsel aus dem Ohr.

„Kann ich dir weiterhelfen?", schniefte ich leise. Der Blonde antwortete: „Um ehrlich zu sein, sieht es eher so aus, als ob du Hilfe gebrauchen könntest. Oder wie kommt es, dass sich so ein hübsches Mädchen wie du freiwillig bei diesem ekligen Wetter ohne Jacke hier draußen herumtreibt und dabei riskiert, sich eine Lungenentzündung einzufangen?"
„Das geht dich einen Scheiß an!", bluffte ich ihm, in einem schärferen Ton als eigentlich beabsichtigt, entgegen. Was meinte dieser Typ eigentlich, sich herausnehmen zu können? Sich einfach so in meine Angelegenheiten einzumischen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was in meinem Leben los ist! Er kannte mich noch nicht einmal! Allein schon der Gedanke daran, dass mein Leben gefühlt nur noch bergab ging, sorgten dafür, dass mir abermals Tränen in die Augen stiegen, von denen sich ein paar wenige den Weg über meine Wangen bahnten.

Der Blondhaarige trat einen Schritt auf mich zu und legte vorsichtig seine Hand auf meinen Arm. „Himmel – du bist ja total durchnässt!", sprach er mehr zu sich selbst als zu mir. „Du holst dir noch da draußen den Tod!"
„Und wenn? Es kann dir doch vollkommen egal sein, was mit mir ist!", entgegnete ich, begleitet von einem weiteren Schniefen. Meine Güte, war dieser Typ vielleicht hartnäckig!

Er sah mich lange und eindringlich an – fast so, als würde er über etwas nachdenken. Schließlich antwortete er: „Hör zu: Es ist mir aber nicht egal. Gut ok, deine Lebensgeschichte als solches und welche Gründe es hat, warum du offensichtlich so down bist, geht mich in der Tat nichts an, solange du nicht von selbst mit mir darüber reden willst – das respektiere ich auch voll und ganz. Womit ich allerdings ein riesiges Problem habe und was ich mit meinem Gewissen absolut nicht vereinbaren kann, ist, dich hier komplett dir selbst und deinem Schicksal zu überlassen und zuletzt auch noch zu riskieren, dass dir irgendetwas zustößt! Gerade du als junge Frau musst da echt vorsichtig sein – man weiß nie, was hier für Typen unterwegs sind."

Er strich sich mit den Fingern durch seine mittlerweile ebenfalls völlig durchnässten Haare. Dann fuhr er fort: „Solange wir hier draußen sind, kann ich dir zwar nicht großartig mit etwas dienen, aber ich kann dir bei mir ein trockenes Dach über dem Kopf inklusive einer schönen Tasse Tee und einer heißen Dusche anbieten. Meine Wohnung liegt nicht so weit von hier entfernt." Ich sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Verwunderung an und legte meinen Kopf leicht schief. Sag mal, macht der Kerl Witze? Er hat mit mir gerade mal ein paar Takte gewechselt und will mich jetzt schon zu sich mit nach Hause nehmen? Hat der einen Clown gefrühstückt oder was? „Nein, habe ich nicht und ja, ich meine mein Angebot ernst.", unterbrach der Blonde soeben meine Gedanken und zwinkerte mir zu. Ich habe meine Gedanken jetzt nicht ernsthaft laut ausgesprochen, oder? Oh Gott, Sam...

„Ähm... äh... ich weiß nicht.", druckste ich herum und schämte mich im selben Moment dafür, dass ich ihn vorhin so angeblökt hatte. Er schien ja wirklich echt nett zu sein und mir – aus welchen Beweggründen auch immer – nur helfen zu wollen. Und überhaupt konnte er ja auch gar nichts für all den Mist, den ich gerade durchmachen musste – wie sollte er denn auch? Wir kannten uns ja schließlich erst seit fünf oder zehn Minuten.

„Hey, du musst keine Angst vor mir haben – ich will dir nichts Böses.", erklärte er, während er mir unentwegt über meinen Arm streichelte und dabei meinen Blick suchte. „Wirklich nicht.", fügte er mit Nachdruck hinzu. Ich wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an ihm gab mir das Gefühl, dass er seine Worte wirklich ehrlich meinte und dass ich ihm vertrauen könne. Aus diesem Grund murmelte ich ein leises „Ok, ich komme mit dir. Lass uns gehen.", woraufhin sein anfänglich besorgter Gesichtsausdruck einem fast schon Erleichterten wich. Er half mir, von der Parkbank aufzustehen und so machten wir uns auf den Weg zu der Wohnung des mir noch unbekannten Blondhaarigen.

Auf dem Weg dorthin begann ich plötzlich, fürchterlich zu frieren. Die Strapazen allein schon des heutigen Tages zeigten soeben ihre volle Wirkung. Bitte lass es ihn nicht bemerken. Ich möchte ihm nicht noch mehr Umstände bereiten, als er sich wegen mir wahrscheinlich eh schon macht. Just in diesem Augenblick wandte er sich mir zu und sah natürlich sofort, dass ich am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub. „Du frierst ja total!", bemerkte er. „Komm mal ein Stückchen näher ran." Und ohne großartig zu überlegen, legte er seinen Arm um meine Schulter und zog mich ein ganzes Stück näher an seinen Körper heran, ehe wir weitergingen. Für Außenstehende mussten wir sehr vertraut gewirkt haben. Vielleicht fast sogar schon ein bisschen zu vertraut? Darüber machte ich mir aber in diesem Moment keine Gedanken. Ganz im Gegenteil: Gewissermaßen genoss ich sogar die Nähe und die Wärme, die von ihm ausging – auch wenn ich noch immer nicht wusste, wer er war und warum er ausgerechnet mir helfen wollte.

Auf unserem Weg vorbei an vielen großen und kleinen sowie hohen und nicht ganz so hohen Häusern blieb er irgendwann vor einem stehen. „So, da wären wir.", sprach er und lächelte. „Hier wohne ich."

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