Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Alles, was ich wahrnahm, war diese kalte Hand auf meiner Wange und eine Vielzahl an Worten, die im ersten Moment wie ein grauer, unverständlicher Brei auf mich hereinprasselten und deren Laut sich erst nach und nach zu einem sinnvollen Gebilde zusammenfügte: „Sam? SAM? Bitte wach auf! Komm zu dir!" Verschreckt schlug ich meine Augen auf und blickte geradewegs in das besorgt dreinschauende Augenpaar von Julian, der über mich gebeugt dasaß und atmete, als hätte er gerade einen kilometerlangen Sprint hingelegt. Hastig setzte ich mich im Bett auf, wobei seine Hand von meiner Wange rutschte und sah mich um. Um uns herum war es dunkel und lediglich der Mond, der zum Fenster hereinschien und seine Schatten auf unsere Gesichter warf, spendete Licht und verriet zugleich, dass es tiefste Nacht sein musste. Mein Blick wanderte zurück zu Julian, der dazu übergegangen war, mein Knie zu streicheln und unvermittelt, ohne dass ich großartig erklären konnte, warum, brach ich in Tränen aus. In erster Linie waren es wohl Tränen der Erleichterung, weil Julian bei mir am Bett saß und einfach da war, aber auch Tränen der Angst wegen der Sache mit Emil.
„Sammy, hey – nicht weinen! Ich bin doch da!", hauchte Julian und zog mich in seine Arme. Beruhigend streichelte er mir über den Rücken und wiegte mich sanft hin und her. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Schulter sinken und schluchzte: „Emil, also mein Mann, war da! Er weiß, dass ich hier bin! Er wollte... er wollte mich..."
„Shh, beruhige dich, Sam – es war alles nur ein Traum.", unterbrach mich Julian. „Emil war nicht hier und er weiß auch nicht, dass du bei mir bist. Du bist hier in Sicherheit und ich passe ganz gut auf dich auf – versprochen!"
„Danke, Julian. Danke für alles.", murmelte ich in seine Halsbeuge und sog seinen Duft ein. In Bezug auf Julian gab es zwei Dinge, die ich mich fragte: Erstens, wie ein einzelner Mensch nur so liebevoll und selbstlos sein konnte wie er und zweitens, wie er es anstellte, dass er immer so gut roch. Ich konnte nicht einmal genau definieren, was es war, aber es löste in mir jedes Mal eine tiefe Ruhe und Geborgenheit aus.Wie lange wir in dieser Position verharrten, ob es nur ein paar Minuten waren oder vielleicht sogar schon eine Stunde, wusste ich nicht, als er sich plötzlich zu Wort meldete: „Du, Sam? Was hältst du davon, wenn wir runter in die Küche gehen und ich jedem von uns eine schöne Tasse Tee mache? Ich kann nämlich gerade noch nicht pennen." Leise, mit einem kleinen Hauch von Traurigkeit darüber, die körperliche Nähe zu ihm aufgeben zu müssen, seufzte ich auf, bejahte seine Frage mit einem Nicken und löste mich langsam von ihm. Ich drückte mich vorsichtig vom Bett hoch und folgte Julian die Treppen nach unten, bis wir schließlich in der Küche angekommen waren, wo er sich direkt daran machte, den Wasserkocher zu befüllen. Ich beobachtete ihn von der Seite. Irgendetwas lag in seiner Mimik, was ihn bedrückt, ja, schon fast traurig erscheinen ließ. Er wirkte in gewisser Art etwas abwesend und seine Augen waren derart glasig, dass es so aussah, als hätte er geweint. Was auch immer es war, das ihn so beschäftigte: Es nahm ihn wirklich wahnsinnig mit – das war mehr als offensichtlich.
Julian musste wohl meinen kritischen Blick bemerkt haben, denn als er sich mir wieder zuwendete, zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen, welches jedoch seine Augen nicht erreichte. „So, das dauert jetzt einen kurzen Moment. Wollen wir uns in der Zwischenzeit setzen?", fragte er, woraufhin wir uns jeder auf einen Stuhl niederließen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens ergriff er wiederum das Wort: „Na, geht es dir jetzt zumindest ein bisschen besser? Es tut mir so leid, dass dich das, was Emil dir angetan hat, sogar bis in den Schlaf verfolgt und er dich nicht einmal dann in Ruhe lässt. Wenn ich könnte, würde ich ihm am liebsten auf der Stelle eigenhändig den Hals umdrehen!" Begleitend zu seinen Worten ballte er seine linke Hand kaum merklich zur Faust. „Ich weiß, Julian.", gab ich zurück. „Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Es geht schon wieder – das alles mit dem Traum war vorhin nur so wahnsinnig viel und ich wusste erstmal nicht, wohin damit. Wie Emil mich geschlagen und verspottet hat, wie er mich an meinen Haaren die Treppe hochgezerrt hat, wie er mich auf's Bett geworfen und mir die Luft abgedrückt hat: Alles hat sich so real angefühlt und ich fühlte mich, als ob ich jeden Moment sterben würde." Meine Stimme begann zu zittern und ich senkte schnell meinen Blick in Richtung Tischplatte, damit er die Tränen nicht sah, die sich in meinen Augen sammelten. Julian griff nach meiner Hand, nahm sie zwischen seine Hände und streichelte mit seinen Daumen darüber. Ich blinzelte die Tränen beiseite und atmete noch einmal tief durch, ehe ich ihm in die Augen sah und meine Gedanken aussprach: „Danke, dass du dich so sehr um mich kümmerst und dir all meinen Kummer anhörst. Das ist keineswegs selbstverständlich – vor allem, weil es in deinem Leben offensichtlich auch etwas gibt, was dich bedrückt. Du wirkst nämlich manchmal etwas traurig, finde ich."
„Ich?", entfuhr es Julian wie aus der Pistole geschossen. „Nee, da irrst du dich – bei mir ist alles im grünen Bereich!" Seine Stimme klang grell, fast schon piepsig und sie drohte, jeden Moment zu brechen. Diesmal war er es, der meinem Blick auswich. Ich hatte bei ihm definitiv einen wunden Punkt getroffen – das spürte ich ganz genau. Unsicher darüber, ob ich es auf dieser Aussage seinerseits beruhen lassen sollte oder nicht, schob ich schnell hinterher: „Wenn es irgendetwas gibt, das dich belastet und du jemanden zum Reden brauchst: Ich will gerne für dich da sein dürfen, so wie du seit den letzten Tagen für mich da bist, ok?" Er brachte nicht mehr als ein Nicken zustande und schluckte. In diesem Moment piepste der Wasserkocher los, woraufhin Julian schlagartig meine Hand losließ und regelrecht von seinem Stuhl aufsprang. „Ich mach das grad mal eben – bin sofort wieder da.", meinte er nur und ging – oder sollte ich eher sagen, hechtete – zur Arbeitsplatte, um den Wasserkocher zum Stillstand zu bringen.
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Fix you
RomanceDie 25-jährige Sam ist verzweifelt: Der Mann, von dem sie glaubte, dass er sie genauso liebte wie sie ihn, entwickelte sich tagtäglich immer mehr zu einem menschgewordenen Albtraum und behandelte sie ohne Respekt. Gerade als sie sich mit der Tatsac...