Kapitel 9

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Mit einem letztem Blick auf Sam, die tief und fest schlief, zog ich leise das Türschloss hinter mir zu. Es war zwischenzeitlich Abend geworden und Jannis war schon am Nachmittag gegangen, um sich noch mit ein paar Freunden zu treffen und sich mit der Stadt etwas vertraut zu machen, da er aufgrund seines anstehenden Studiums im Herbst hierherziehen würde. Ich dagegen trat, wie so oft, die Flucht in die schützende Dunkelheit der Nacht an. Oder um es anders auszudrücken: Ich versuchte viel mehr, vor meinen Gedanken, Sorgen und Ängsten davonzulaufen, in der naiven Hoffnung, sie auch nur für einen Augenblick vergessen zu können. Ich startete den Motor meines Wagens und fuhr zu dem Ort, den ich immer dann aufsuchte, wenn mir schlichtweg alles zu viel wurde und ich Zeit und Raum zum Nachdenken brauchte. Wenige Minuten später war ich angekommen und ließ das Fenster meines Autos herunter. Fast schon gierig sog ich die kühle Abendluft in meine Lungenflügel und blickte in den Himmel, der von Sternen nur so übersät war. Wie ein schöner, wärmender Mantel legte sich die Nacht mit ihrer Ruhe, die sie ausstrahlte, um mich.

In mir selbst herrschte allerdings das totale Kontrastprogramm: Tausende Dinge gingen mir durch den Kopf, aber nichts davon ließ sich so recht fassen. Immer wieder hallten Jannis' Worte in meinen Gedanken wider: „Emily spielt doch nur noch mit dir! Sie hat absolut gar kein ernsthaftes Interesse mehr an eurer Beziehung! Und wenn wir ehrlich sind: Wärst du mit ihr wirklich so glücklich, dann wäre es gestern mit Sam doch erst gar nicht so weit gekommen." Doch stimmte das? War Emily unsere Beziehung wirklich nichts mehr wert? Und vor allem: Was war das mit Sam? Hatte ich überhaupt Gefühle für sie, die zumindest annähernd in die Richtung von Liebe bzw. Verliebtheit gingen?

Wenn ich rein nach meinem Verstand ging, sträubte ich mich offen gesagt so ein bisschen dagegen, das Wort „Liebe" in Zusammenhang mit einer Person in den Mund zu nehmen, die ich gerade erst seit guten zwei Tagen kannte. Mein Herz sprach im Gegensatz dazu eine etwas andere Sprache: Ich empfand für Sams Situation, die mehr als nur schrecklich war, wahnsinnig viel Mitgefühl und auf gewisse Art auch so etwas wie Verantwortung ihr gegenüber – schließlich hatte ich ihr versprochen, nie wieder zu diesem Mistkerl von Mann zurückkehren zu müssen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Sams Gesicht und ihren verweinten, verzweifelten Blick, den sie mir gestern schenkte, kurz bevor sie nach einigem Zögern die eh schon kurze Distanz zwischen uns überbrückte und mich küsste. Mit einem Mal entlud sich sämtliche innere Spannung, die mich bis zu diesem Moment gefangen hielt und ich spürte, dass sie im Kern dasselbe fühlte wie ich: Die Sehnsucht danach, von jemandem geliebt und verstanden zu werden. Mehr noch: Sich wie ein Mensch von Wert zu fühlen und alle Sorgen loslassen zu können – auch wenn es nur für einen Augenblick sein sollte. Dies gab mir im Grunde genommen das Signal, dass das, was zwischen uns beiden passierte, in Ordnung war. Jedes Wort, jeder Kuss, jede noch so intime Berührung – einfach alles, was wir vergangenen Abend miteinander geteilt hatten, hatte gewissermaßen seine Daseinsberechtigung und beim Gedanken an das Leuchten, das Sam seither in ihren Augen trug, bekam ich Kribbeln im Bauch und mein Herz fing an, wie verrückt zu klopfen. Hatte ich mich insgeheim etwa doch in sie verliebt?

Außenstehende würden dies wahrscheinlich mit einem klaren Ja beantworten, aber wie stand ich zu meinen Gefühlen für sie? So sehr ich mir auch den Kopf darüber zermarterte – ich kam einfach zu keinem vernünftigen Ergebnis. Selbst wenn da noch etwas im Spiel war, das über bloße Sympathie hinausging, so war es sicherlich besser, es Sam zunächst einmal nicht zu sagen. Sie steckte immerhin mitten in einer schlimmen Ehe und war gerade dabei, dieser zu entfliehen und da war es bei aller Liebe nicht mein Ziel, sie mit einem derartigen Geständnis noch mehr unter Druck zu setzen. Viel lieber wollte ich ihr der gute Freund sein, der für sie da war und den sie jetzt auch mehr als dringend benötigte und da hatte sich meine Gefühlswelt nun mal hinten anzustellen – vor allem, weil ich mir erstmal darüber klarwerden musste, ob das mit Emily und mir noch eine Zukunft hatte.

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