Kapitel 3

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Julians POV:

„So, da wären wir. Hier wohne ich.", erklärte ich und lächelte dem mir zumindest noch namentlich unbekannten Mädchen zu. Ich schätzte sie in etwa auf mein Alter und trotz, dass ihr Gesicht an sich einerseits noch recht jugendliche, fast schon kindliche Züge besaß, wirkte sie andererseits wahnsinnig vom Leben gezeichnet. Sie musste wohl schon durch viel Scheiße gegangen sein; die tiefen dunklen Ringe, die ihre braunen Augen untermalten, sprachen quasi Bände, ohne dass auch nur großartig ein weiteres Wort ausgesprochen werden musste. Armes Ding. Auch wenn ich ihre genauen Lebensumstände nicht kannte, tat sie mir dennoch einfach nur wahnsinnig leid.

Gemeinsam betraten wir meine Wohnung, die ich seit meinem Wechsel zu Bayer 04 Leverkusen vor etwa vier Jahren bewohnte. Sie war jetzt zwar nicht so super steril, dass man vom Boden hätte essen können, aber dennoch für meine Verhältnisse echt sauber und aufgeräumt – mitunter meiner Zeit im Internat in Wolfsburg sei Dank.

„Na gut.", ergriff ich das Wort. „Ich würde vorschlagen, dass wir zunächst einmal zusehen, dass wir für dich etwas Trockenes anzuziehen finden, bevor du dich hier noch komplett verkühlst." Daraufhin verschwand ich schnell in Richtung Schlafzimmer und kam kurze Zeit und eine kleine Durchsuchungsaktion quer durch meinen Kleiderschrank später mit einem dicken grauen Kapuzenpullover und einer beigefarbenen knielangen Jogginghose im Schlepptau wieder zurück. Anschließend zeigte ich ihr noch das Badezimmer und erklärte ihr, wo sie was findet. „Wenn du noch irgendetwas brauchen solltest, dann gib einfach Bescheid.", sagte ich ihr, ehe ich die Türe hinter mir schloss und mich auf den Weg in die Küche machte, um das Wasser für den Tee aufzusetzen.

Während das Wasser im Wasserkocher vor sich hinblubberte, beschloss ich, mich bei Emily zu melden, nachdem ich schon Tage nichts mehr von ihr gehört hatte. Emily war meine Freundin, mit der ich schon seit Teenagertagen liiert war – quasi meine erste große Liebe, wenn man so will. Allerdings lief es schon die letzte Zeit nicht mehr so rund zwischen uns, wie es eigentlich sein sollte. Ich öffnete WhatsApp und schrieb ihr:

„Hey Schatz, wie geht es dir und was machst du so? Du hast ja schon eine gefühlte Ewigkeit nichts mehr von dir hören lassen ;-) Ich liebe dich <3 :-*"

Anschließend legte ich mein Handy auf die Arbeitsfläche und machte mich auf die Suche nach etwas Süßem, das wir beide nachher neben dem Tee her naschen konnten. Ich durchforstete einen Schrank nach dem Nächsten und überall bot sich mir ein ähnliches Bild: Gähnende Leere, Zeugs, wonach ich mir vor etlichen Wochen mal einen Wolf gesucht hatte und das nun wie von Geisterhand wieder aufgetaucht war, unzählige Tupperdosen, von denen mich eine beim Öffnen des Schranks um ein Haar erschlagen hätte und da – tatsächlich noch eine Tafel Schokolade, die mir mein Bruder mitgebracht hatte, als er mich das letzte Mal besuchen war. Danke, Jannis – dich schließe ich heute auf jeden Fall in meine Nachtgebete mit ein.

Als der Wasserkocher piepte, kramte ich zwei Tassen sowie zwei Teebeutel aus dem Schrank. Schwarzer Tee und Schokolade – eine bessere Kombination gab es aus meiner Sicht einfach nicht. Ich goss die Teebeutel mit dem heißen Wasser auf und brachte alles ins Wohnzimmer. Gerade als ich die Tassen auf dem Tisch abgestellt hatte, hörte ich, wie mein Handy in der Küche vibrierte. Ich schaute auf das Display und sah, dass Emily mir geantwortet hatte. Schnell öffnete ich die Nachricht, doch als ich las, was sie mir geschrieben hatte, wich mir jegliche Farbe aus dem Gesicht:

„Mensch Julian, willst du mich etwa kontrollieren oder was? Du nervst mich, weißt du das?"

Jedes einzelne ihrer Worte fühlte sich an wie ein Schlag direkt in die Magengrube. Seufzend ließ ich mich auf's Sofa fallen. So ging das nun schon seit Monaten. Was war nur los mit ihr? So sehr ich auch grübelte – ich konnte mir einfach keinen Reim auf ihr Verhalten machen. Die letzte Zeit hatte ich bereits immer wieder mit dem Gedanken gespielt, mich von ihr zu trennen, weil mich ihr ganzes Theater schlichtweg kaputtmachte. Letzten Endes brachte ich es aber doch nicht über's Herz – viel zu sehr hing ich noch an ihr und hielt an all den schönen Erinnerungen fest, die einmal waren und gefühlt von einem Moment auf den Anderen in immer weitere Ferne rückten.

Plötzlich hörte ich im Korridor Schritte. War sie etwa schon fertig? Kaum dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, tauchte sie auch schon im Türrahmen auf. Wie ich es mir schon im Vorfeld gedacht hatte, waren ihr meine Klamotten natürlich ein ganzes Stück zu groß: Während es ihr gelungen war, die Bänder der Hose so fest zu schnüren, dass sie ihr kaum mehr hinunterrutschte, waren ihr die Ärmel des Pullovers jedoch so lang, dass sie ihre Hände komplett bedeckten und sogar noch weit über sie hinausragten. Ich musste mir das Grinsen verkneifen. Wie sie so mit ihren langen, noch leicht feuchten brünetten Haaren und diesen viel zu großen Klamotten vor mir stand, sah schon irgendwie echt süß aus. Mensch, Julian – reiß dich gefälligst zusammen!

„Oh, da bist du ja schon! Komm, setz dich.", sagte ich lächelnd und deutete ihr, sich zu setzen. Ich wollte sie auf keinen Fall merken lassen, wie sehr mich Emilys Nachricht beschäftigte. Langsam kam sie auf mich zu und nahm schließlich neben mir auf dem Sofa Platz. Eine ganze Weile schwiegen wir und jeder von uns Beiden nippte vorsichtig an seinem Tee und knabberte ein bisschen Schokolade, ehe sie das Wort ergriff: „Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt,... äh..."
„Julian.", entgegnete ich. „Ich heiße Julian. Und wer bist du?"
„Sam.", antwortete die Brünette knapp. „Eigentlich heiße ich Samantha, aber so ziemlich jeder nennt mich Sam. Jedenfalls muss ich mich bei dir bedanken, Julian. Ich bin dir echt etwas schuldig. Ach, und: Sorry wegen vorhin – ich wollte dich nicht so blöd anmachen."
„Schon ok – ich habe dich ja auch schon fast überfallen, um ehrlich zu sein.", zwinkerte ich ihr zu.

Plötzlich – aus welchem Grund auch immer – fing sie an zu grinsen und Himmel, hatte sie ein schönes Lächeln! „Also einen Nachteil hat deine Kleidung. Sie ist zwar wohl einerseits trocken und durchaus kuschelig, aber andererseits fühlt man sich teilweise in ihnen dezent verloren.", meinte sie und lachte, als ihr abermals die Ärmel des Pullovers über ihre Hände rutschten. „Warte, ich helfe dir!", rief ich, rutschte an sie heran und griff ihr an den Arm, um den Ärmel ein Stück nach oben krempeln zu können, was sie mit einem leisen „Ah!" und einem schmerzverzerrten Gesicht quittierte. Was war denn los? Hatte sie sich vielleicht vorhin in der Dusche verletzt? Unruhe machte sich in mir breit.

Schließlich schob ich den Ärmel vorsichtig hoch und sah ihren Unterarm, der mit unzähligen Blutergüssen übersät war. „Wie ist das denn passiert?", fragte ich und sah zu ihr auf. Von ihrem Lächeln von gerade eben war keine Spur mehr übrig. Stattdessen fing sie wahnsinnig an zu zittern und es sammelten sich Tränen in ihren Augen, die ihr unentwegt über die Wangen liefen. „Hey, was ist denn los? Wer hat dir das denn angetan? Erzähl mal!", flüsterte ich und streichelte ihr tröstend über den Rücken. Was auch immer ihr widerfahren sein musste – es musste echt schrecklich gewesen sein! „Ok, ich sage es dir.", murmelte Sam nach einer Weile. Sie schniefte leise auf, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus ihrem Gesicht, nahm einen großen Schluck Tee, holte nochmal tief Luft und begann zu erzählen.

Fix youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt