29.08.2018

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Mein Wecker klingelte heute nochmal ein bisschen früher als die anderen Tage, da wir in Rotterdam, dem heutigen Hafen, nur vormittags lagen und nachmittags eine kleine Tour durch den Hafen machten. Ich war definitiv kein Morgenmensch, meiner Mutter dagegen schien das frühe Aufstehen nichts auszumachen.

Ich wollte eigentlich nur noch zurück in mein warmes, weiches Bett und weiterschlafen, aber stattdessen war ich fröstelnd auf dem Weg zum Frühstücksraum. So hatte ich mir meinen Sommerurlaub definitiv nicht vorgestellt!

In Rotterdam besuchten wir unter anderem die Markthalle, die in ihrer Größe und Architektur überzeugte, aber auch kleinere  Sehenswürdigkeiten. Der Ausflug war sehr abwechslungsreich und interessant; jede Stadt haute mich von neuem um. Wie in jeder Stadt machten meine Mutter und ich natürlich ein paar Bilder von mir, die ich dann auch auf Instagram hochlud.

Eine Besonderheit gab es hier allerdings in Rotterdam: nach dem Ablegen war noch eine Rundfahrt durch den Hafen geplant und das mit dem ganzen Schiff! Also gingen meine Mutter und ich nach den Mittagessen nach oben auf das Sonnendeck und schauten und interessiert den Hafen an. Während meine Mutter allerdings an Fotos machen und am Videos drehen war, beschäftigte ich mich lieber mit Instagram Stories und erstellte ein paar Boomerangs von dem Hafen.

Konzentriert schaute ich auf mein Handy, als sie plötzlich von links nach rechts durch mein Bild rannte. Ich erschrak mich total, da ich durch meine Fokussierung auf mein Handy und dessen Bildschirm nicht auf meine Umgebung geachtet hatte. Über mich selbst und wie leicht ich zu erschrecken war lachend, lag ich auf einer Liege und starrte immer noch wie besessen auf die Stelle, an der sie gerade vorbei gerannt war. Heimlich beobachtete ich sie, wie sie am Geländer stand und selbst Fotos machte. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von ihr abwenden und ich vergas sogar, wie windig und dadurch auch wie kalt mir eigentlich war.

„Alles ok bei dir?" Mit diesem Satz holte mich meine Mutter wieder zurück in die Realität und deren Kälte. „Ja, mir ist nur ein bisschen kalt", antwortete ich und hoffte, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie ich sie angestarrt hatte. „Gut, dann gehe ich jetzt weiter Fotos machen. Komm einfach zu mir, wenn irgendetwas ist!" Nickend blickte ich meiner Mutter noch kurz hinterher, bevor mein Gehirn sich über die Aussage ‚komm einfach zu mir, wenn irgendetwas ist' aufregte und ich mich davon überzeugen musste, dass jetzt noch nicht der Zeitpunkt gekommen war.

Eigentlich wollte ich sie weiter beobachten, aber als ich wieder an den Platz schaute, Anden sie gerade noch war, konnte ich sie nicht mehr erkennen. Enttäuscht ließ ich die Hafengebäude auf mich wirken und versuchte die durchgesagten Informationen wenigstens für eine Minute bei mir zu behalten.

Doch schon nach kurzer Zeit war ich genervt von der Überflutung der ganzen Informationen, dass ich mich lieber wieder mit meinem Handy beschäftigte. Ein kleiner Windhauch ließ mich meine Jacke noch enger an mich drücken, falls das überhaupt noch möglich war. Theoretisch wollte ich mich eigentlich auf mein Handy konzentrieren, aber ich erwischte mich dabei, wie ich mich immer wieder unauffällig nach ihr umschaute und einfach hoffte, dass sie direkt an mir vorbeilaufen würde.

Natürlich passierte nichts in die Richtung, sodass meine Mutter und ich nach der Rundfahrt wieder gemeinsam in die Lounge gingen, um uns wieder aufzuwärmen. Hier verbrachten wir auch den frühen Nachmittag mit Lesen, Karten spielen und Gespräche über diverse Personen an Board, die mir den letzten Nerv mit ihrem niveaulosen Gerede raubten.

Eigentlich wollte ich immer so viel Zeit wie möglich mit ihr  verbringen, aber gleichzeitig musste ich aufpassen, dass meine Mutter nicht misstrauisch wird. So war für heute Nachmittag Bingo spielen eingeplant, aber es wäre zu auffällig gewesen dort mitspielen zu wollen, denn ich hasse Bingo. Ich finde es gibt nichts langweiligeres als irgendwelche Zahlen anzukreuzen... Meine Mutter wollte in die Kabine gehen, also trottete ich ihr hinterher, während ich genau wusste, dass sie dort oben jetzt sein würde.

Ich schrieb ihr noch schnell eine Nachricht, in der ich ihr viel Spaß wünschte, da ich immer einen Grund suchte, Kontakt zu ihr zu haben. Den späten Nachmittag verachten wir also in der Kabine und kamen erst zum Abendessen wieder nach oben. Dort sah ich auch, dass sie mir geantwortet hatte. Innerlich freute ich mich jedes Mal wie ein kleines Kind an Weihnachten über die Geschenke und musste aufpassen, dass sich nur ein kleines Lächeln auf meine Lippen legte. Ich konnte die Male schon nicht mehr zählen, in denen mich meine Mutter gefragt hatte, von wem ich denn eine Nachricht bekommen hätte und warum ich so Lächeln würde und in denen ich dann meinte, ich hätte eine Nachricht von meiner besten Freundin bekommen. Schnell machte ich ihr noch ein Kompliment via Instagram, bevor ich mich mit gutem Gewissen meinem Abendessen widmete.

Wie nahezu immer gab ich die Hoffnung nicht auf, dass sie sich irgendwann mal beim Essen zu uns setzen würde. Platz hätte es, sie müsste nur wollen. Jedes Mal passierte es doch nicht, aber meine Hoffnung wurde nicht weniger. Im Gegenteil: sie wurde eigentlich nach jedem Mal größer.

Auch am Abend hielt ich die ganze Zeit nach ihr  Ausschau und hoffte, dass sie wieder zu uns kommen würde. Aber nein, sie setzte sich zu einer anderen Familie an den Tisch. Ja, ich war neidisch auf diese Familie. Neidisch, weil sie sie zum Lachen brachten und ich nicht diejenige war, die es tat. Ja, ich war neidisch, dass der Sohn in ihr  hübsches Gesicht schauen durfte und ich nicht. Ja, ich war neidisch darauf, dass der Sohn in ihrem  Alter war und tausend Mal höhere Chancen hatte, bei ihr  zu landen. Ja, ich war neidisch darauf, dass der Sohn nicht abgeneigt von ihr  war und ich nichts dagegen machen konnte. Das Gefühl der Machtlosigkeit zusammen mit der Verwirrung, die in meinem Kopf herrschte, machten mich gleichzeitig müde und aufgeregt. Müde, weil ich über so vieles nachdenken wollte und musste; aufgeregt, weil ich stark sein wollte und ihr  meine beste Seite zeigen wollte.

Ich wollte ihr  wenigstens noch Gute Nacht wünschen, aber als es Zeit dafür war, war sie  wie vom Erdboden verschluckt. Also schrieb ich ihr  wieder einmal eine Nachricht und ging enttäuscht hinter meiner Mutter zurück in unsere Kabine. Niedergeschlagen machte ich mich Bett fein und legte mich erschöpft ins Bett. Ich hatte das Gefühl, dass ich von Abend zu Abend trauriger wurde und ich wusste noch nicht einmal den Grund dafür...

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