Kapitel 3

9 3 0
                                    

Lissa hatte einen Plan. Denn irgendwie musste sie ihr Gewissen ins Reine bringen. Der Plan hatte noch nicht wirklich Gestalt angenommen, doch als sie gerade dabei war, von der Bushaltestelle rüber in ihr Wohnviertel zu laufen, bemerkte sie ein kleines, schwarzes Auto an dessen Steuer Vincent saß und die Gedanken um die Ausarbeitung hatten sich erledigt.

Sie merkte sich das Kennzeichen und lief dann weiter die Hauptstraße entlang über die Brücke hinüber in die andere Welt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bis zur letzten Minute doch sehr stark daran gezweifelt, dass Vincent aus der Plattenbausiedlung kam, zeugte doch seine ganze Art irgendwie von etwas höherem. Und doch dauerte es nicht lange, bis sie nur einige Straßen weiter in der dunklen Welt das Auto wiederfand. Es stand in einer Reihe vor einem der gelblich gefärbten Gebäude, die sich wie Gefängnismauern in den Himmel erstreckten und jegliche Freude in der Welt außerhalb dieses Viertels ließ.

Lissa war noch nie auf der anderen Seite der Brücke gewesen. Obwohl sie so nah wohnte, hatten ihre Eltern ihr streng verboten, in die schäbige Siedlung zu gehen. Und nun verstand sie, wieso. Einen trostloseren Ort konnte es kaum geben. Es war wie in den Filmen. Sie stand eingeengt auf dem schlecht geteerten Bürgersteig und klammerte sich an die Bändel ihres Rucksacks, während aus einem der staubigen Fenster das Röhren einer Realityshow drang und in einer anderen Wohnung ein Baby schrie.

Als Vincent aus dem Auto stieg, wurde Lissas Fantasie, die dabei war erschreckend düstere Züge anzunehmen, zurück in die Wirklichkeit gezogen. Vincent schloss das Auto, indem er den Schlüssel in ein Schloss am Türgriff steckte, dann fiel sein Blick auf Lissa, die unschlüssig im Nieselregen stand.

„Vincent!", rief sie und kam einige Schritte auf ihn zu.

„Was willst du denn hier?", rief er und es schwang Wut in seiner Stimme mit. Nicht, weil er wütend auf Lissa war. Sondern weil es sein Vater war, wegen dem er unmöglich hier mit ihr sprechen konnte.

„Ich muss mit dir reden", sagte Lissa. „Das wird bisschen komisch klingen, aber~"

„Nicht hier."

Daraufhin ging er die paar Schritte zu ihr, packte sie am Arm und zog sie mit sich zwei Gassen weiter, wo sie hoffentlich niemand mehr sehen konnte. Hoffentlich nicht sein Vater. Am liebsten hätte er sie einfach weg geschickt, doch nun war sie schon hergekommen und auch, wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was es sein könnte, musste es wohl doch wichtiges sein.

„Also, das klingt vielleicht komisch", wiederholte Lissa.

„Komm zur Sache."

Sie atmete ein.

„Warst du letzte Nacht auf der Brücke?" Gott, sie kam sich vor, wie ein Stalker. „Ich meine. Da war jemand. Auf der Brücke. Und ich werd den Gedanken nicht los."

Etwas zu entgeistert sah er sie an. Oh, er war auf der Brücke. Und er hatte jemanden gesehen und erst jetzt merkte er, dass es unverkennbar sie war.

„Ich will nur sichergehen. Keine Ahnung. Dass du das nicht tun willst." Ihre Wangen erröteten.

„Ja", sagte Vincent nur, dann biss er die Zähne aufeinander, um den Schwall an Verzweiflung zu unterdrücken.

„Bist du okay? Du wolltest doch nicht springen", stammelte Lissa. Was um alles in der Welt hatte sie sich denn dabei gedacht? Es musste schon verdammt komisch sein, einen komplett fremden Menschen zu fragen, ob er sich hatte umbringen wollen.

Vincent richtete seinen Blick zum Boden. Es fehlten die Worte. Er wollte nicht lügen. Also sagte er lieber nichts. Zurück gedrängt von den Heile-Welt-Fantasien eines zu gut behüteten Mädchens. Er wollte sie am liebsten hassen, da sie von Sachen sprach, von denen sie doch niemals eine Ahnung haben konnte. Doch er konnte nicht. Denn da war etwas in ihrem Blick.

„Kann ich sichergehen, dass du es nicht nochmal tun wirst?", fragte sie vorsichtig.

„Okay."

„Falls du reden möchtest..." Ein Satz, den man auch nur sagt, weil er gesagt werden muss. Sie beide wussten, dass das wohl niemals der Fall sein würde.

Vincent sah auf. Seine Augen waren gar nicht eisblau, sondern grau, wie der Wolkenhimmel über ihnen. Grau und so trostlos.

„Danke", sagte er. „Aber ich bin okay."

Damit schob er sich, obwohl alles in ihm dagegen widerstrebte, an ihr vorbei und verschwand irgendwo hinter einer der grauen Türen, während Lissa nicht zufrieden aber auch nicht mehr ganz so unsicher zurück in ihre ach-so-heile Welt lief.

Zwei Stunden später saß Lissa mit ihrer Familie beim Abendessen. Das war eine dieser verzweifelten Maschen ihrer Mutter, die nicht ganz so heile Familie doch irgendwie zusammenzuhalten. Während Lissa schweigend dasaß und sich die Kartoffeln in den Mund schob, dachte sie, dass wohl nicht nur sie ein falsches Bild von Vincent hatte, sondern er anscheinend auch von ihr. Wie sah er sie? War sie für ihn bloß eines dieser Kinder, die in einer Blase aufgewachsen waren? Die nicht wussten, wie schlimm die Welt war, nur weil sie in einer hübschen Neubausiedlung wohnten und noch alle Familienmitglieder beisammen hatten?

Wenn du wüsstest, dachte sie, doch dann wurde ihr wieder bewusst, dass es doch niemand wusste. Im Prinzip herrschte Oberflächlichkeit über die Welt.

Denn dass zum Abendessen zunehmend mindestens ein, manchmal sogar zwei Familienmitglieder fehlten, darüber wurde ja nicht gesprochen. Lissa bemerkte lediglich den säuerlichen Blick ihrer Mutter, wenn ihr Vater schon wieder bis acht auf der Arbeit blieb. Oder den enttäuschten Blick, wenn ihr jüngerer Bruder viel zu spät und mit Zigarettengestank an der Jacke nach Hause kam, um wortlos in seinem Zimmer zu verschwinden.

Und dennoch saßen sie nun alle zu viert am Tisch und hatten sich nichts zu erzählen. Noch nichts.

„Da war letzte Nacht ein Typ auf der Brücke", sagte Lissas Bruder, Phil.

Sie verschluckte sich an der Kartoffel. Er war wach gewesen?

„Hat sich auf das Geländer gesetzt, als würde er springen wollen", fuhr Phil fort.

„Wie spät war es da?" Die Stimme ihrer Mutter hatte diesen strengen Ton angenommen, den alle Kinder fürchteten.

„Keine Ahnung. Nach zwölf. Ist ja auch egal", murmelte Phil und die Mutter schlug nur die Augen nieder. Nicht einmal schlafen konnte der Junge vernünftig.

Dabei hielt Lissa lieber die Klappe. Sie wusste selbst nicht so genau, wieso sie nicht wollte, dass die anderen wussten, dass sie es auch gesehen hatte.

„Und du? Hast du wenigstens was getan?", fragte ihr Vater den sechzehnjährigen.

„Ich hätte." Lügner. „Aber dann ist er selber wieder runter."

„Zum Glück", murmelte die Mutter.

„Das hätte ja nicht sein müssen", stimmte der Vater zu.

Redet doch nicht so über ihn, als hättet ihr keine Gefühle!, dachte Lissa. Und das war nicht das einzige, was sie innerlich aufbrachte. Sie kannte ihn. Sie kannte Vincent, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Denn sie kannte das Gefühl und wusste, dass niemand auch nur ahnen konnte, dass sie das Gefühl kannte.

Eigentlich sind wir mehr, als dasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt