Am nächsten Morgen in der Schule wurde Lissa, die dabei war ihr Schließfach mit all dem unbrauchbaren Kram, den sie anschleppen musste, zu füllen, von zwei Händen gepackt und in eine Lücke zwischen zwei Schließfachschränken gedrückt. Es war Melanie, die sie ansah, Hände auf ihre Schultern gedrückt. Eine alles übermannende Sorge hing über ihr.
„Bist du okay?", rief sie.
„Was?"
Verständnislos sah Lissa das Mädchen, das man wohl noch am ehesten als eine Freundin bezeichnen konnte, an. Wieso sollte sie nicht okay sein. Abgesehen von der allgemeinen Melancholie, die durch die Schulflure schwappte.
„Okay. Es gibt Gerüchte", sagte Melanie. Sie wirkte, als hätte sie eine Katastrophe aus dem Schlaf gerissen. Und nun hing sie irgendwo zwischen Betäubung und Wahnsinn. „Son Typ aus der Stufe, so einer, den keiner kennt, der wohnt in der Siedlung da bei dir. Die schäbige. Und er hat gesagt, du warst da und Vincent war da und hat dich dann in eine Gasse gezogen, da konnte der Typ, Ediz, euch nicht mehr sehen."
In Ihrem Blick lag eine solche Sorge, es war kaum auszuhalten. Immer noch verwirrt und in zunehmender Erklärungsnot suchte Lissa noch nach den richtigen Worten, um Melanie irgendwie beizubringen, wieso sie mit Vincent gesprochen hatte. Doch sie merkte, dass etwas nicht ganz stimmte.
„Hat er... Ich meine, ist alles okay? Hat er dich..."
Was zur Hölle?
Lissa wollte gerade nein sagen, da wurde ihr das Ausmaß Melanies Vermutung bewusst. Und sie stockte, als Erinnerungen, die sie längst erfolgreich verdrängt hatte, sie fluteten. Aus ihrem Gesicht wich jegliche Farbe. Da waren diese eiskalten Finger, die an ihrer Haut kratzten. Dann die Hitze in ihrem Inneren. Erinnerungen, die ganz allein ihr gehörten, denn niemand, niemand wusste auch nur irgendwas.
„Ich glaub, ich muss kotzen", murmelte sie und rannte davon zur Mädchentoilette, um im nächsten Moment über der Schüssel zu hängen.
Und obwohl ihr Körper vor Angst zitterte und ihr Mund nicht ekelhafter schmecken könnte, war das einzige, was sie denken konnte, dass es nicht Vincent war. Dass Vincent nichts getan hatte, aber jetzt alle denken musste, er hätte. Er war es nicht. Er war es nicht!
Dieser Bastard!
Die Wangen von Melanie waren immer noch gerötet, nachdem sie es irgendwie geschafft hatte, die Nachricht der Clique mitzuteilen. Wieso auch immer sie das getan hatte. In erster Linie würde sie Geheimnisse zwischen sich und ihrer Freundin lassen. Doch Lissa war so schnell weg gewesen, da hatte sie nicht gewusst, wie sie selbst damit umgehen sollte. Sie hatte reden müssen. Und bestimmt war es eh nichts tragisches gewesen. Bestimmt war es bloß eine dieser Berührungen, die man im Club ständig zu spüren bekam, die dort eine komplett andere Bedeutung an sich nahmen.
Eigentlich war es bestimmt nichts schlimmes gewesen. Und doch entfachte allein der Gedanke an Vincents dreckige Hand auf Lissas Arsch eine unbändige Wut in Michael. Wie konnte er es wagen? Und wie konnten es überhaupt Männer wagen, Frauen anzufassen? Aber das spielte hier keine Rolle. Hier ging es um Lissa. Um eine Sache, die viel verstrickter war, als jemals irgendeiner der Schüler gedacht hätte.
Nun war es an Michael, den Plan zu schmieden. Und noch während Lissa verzweifelt hinter Melanie herrannte, um ihr klarzumachen, dass Vincent sie nicht angefasst hatte, wuchs Michaels Wut zu einem Inferno, das niemand mehr stoppen konnte. Der Bastard würde büßen.
Irgendein Junge aus der Stufe hatte Vincent nicht ganz unauffällig verklickert, dass er ihm gutes Gras für wenig Geld verkaufen würde. Er hielt es für nicht allzu schlecht, etwas zu kaufen. Wenn schon die Einsamkeit, dann mit Joints. Wenn er ehrlich war, wusste er selbst nicht, wieso er sich ausgerechnet auf diesen Schulhofdealer einließ, wo sich doch in seiner neuen Heimat wohl deutlich besseres finden ließ.
Und doch zog ihn etwas in den Park, der irgendwo, nicht allzu weit von seinem Haus entfernt, die Straßen der Stadt unterbrach. Vielleicht wurde er eingenommen von dem Leben. In der Schule konnte man nie man selbst bleiben und irgendwann fing man an, die anderen zu übernehmen. Selbst, wenn man immer hoffte, sich niemals wegen anderen zu verändern. Man wurde eingesaugt und plötzlich kaufte man Gras von nem Typen, weil alle von dem Typen kauften.
Während Vincent sich die Kapuze über den Kopf zog und über den matschigen Weg lief, standen Michael, Lukas und der Dealer neben einer Bank, um ihn zu empfangen. Noch bevor Vincent ein Wort über die Absurdität, dass sie ihm tatsächlich zu dritt was verkaufen wollten, verlieren konnte, überbrückte Michael die wenigen Schritte zu ihm und packte ihn am Kragen seiner Jacke.
„Was hast du ihr angetan, du Wichser?", rief er. In ihm brannte die Wut. Er konnte sie nicht sehen, diese kalten grauen Augen. Nicht, wenn er unablässig an Lissa denken musste. Und an ihr endlos trauriges Lächeln, das sie wohl niemals ihm schenken würde. „He! Was hast du getan?"
Und was zuerst bloß als ekelhafte Beleidigungen geplant war, verwandelte sich viel zu schnell in Gewalt. Dieses brennende Verlangen, das hässliche Gesicht des Kerls in Dreck zu verwandeln. Oh, wie konnte er nur? Wie konnte er das nur seiner Lissa antun. Lissa, die niemandem gehörte und am wenigsten Michael selbst. Scheiß drauf.
Er schubste ihn mit einer solchen Wucht nach hinten, dass Vincent in die Matsche fiel.
„Alter, was soll der Scheiß!", rief Vincent. Er hätte sich niemals darauf einlassen sollen.
Michael beugte sich über ihn, seine Hand wieder an seinem Kragen. Seine Augen brannten. Diese aussichtslose Verzweiflung. Lissa würde nie ihm gehören.
„Das weißt du selber. Dass du dich so an Frauen vergreifst. Ich könnt kotzen!", rief Michael und spuckte seinem Gegner ins Gesicht.
„Hast du sie noch alle?", schrie Vincent und mit einem Satz war er wieder auf den Beinen. Er schubste Michael zurück und wischte sich mit dem Ärmel den Speichel aus dem Gesicht. Wut schoss durch seine Adern, doch vielmehr war da Verständnislosigkeit. Wieso passierte das? Wo war er da hineingeraten? „Was hab ich getan?"
Seine Stimme schallte laut und tief durch den Park. Doch niemand war hier, denn Michael wusste genau, dass dieser Park inoffiziell einzig und allein für solche Aktionen gedacht war.
„Tu nicht so du verdammte Missgeburt!", rief Michael. Er konnte ihn nicht mehr sehen. Dieses Gesicht! Er stürzte sich nach vorne und wollte Vincent eine reinhauen, doch dieser wehrte den Schlag ab und schlug seinerseits mit voller Wucht gegen Michaels Schläfe.
Für einen Moment schien die Zeit anzuhalten. Grau und hellgelb und ein stechender Schmerz. Dann sammelte sich Michaels Kraft und seine beiden Handlanger gingen mit ihm auf Vincent los, bis er am Boden lag und bei jedem neuen Tritt vergeblich versuchte, das Schreien zu unterdrücken.
Und die ganze Zeit dachte Lukas, dass er das nicht wollte. Und er hasste alles.
Zurück blieb Regen, der sich plötzlich so heftig über den Körper ergoss, der da lag. Seine schwarze Jacke war verklebt mit Dreck, der sich auch in seinem Gesicht verhangen hatte. Die Arme immer noch um den Kopf gepresst und keuchend in die Pfütze atmend. Nicht fähig, sich zu bewegen.
Auf der anderen Seite war da die vergebliche Suche nach dem verdammten Hochgefühl, dass sich Michael versprochen hatte. Rache sollte süß sein. Aber da war nichts. Da war nur der Regen und ein dumpfer Schmerz in seinem Fuß und die verfickte Tatsache, dass Lissa niemals ihm gehören würde.
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Eigentlich sind wir mehr, als das
Подростковая литератураHast du auch Geheimnisse? Geschichten, von denen niemand weiß? Die dich nachts in den Wahnsinn treiben? Eigentlich steckt doch viel mehr hinter den Fassaden der Mitschüler, als man denkt. Nicht nur hinter den eisigen Augen des mysteriösen Neuen, son...