Kapitel 8

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Am Montag ist es meistens so, dass einem die Woche, die vor einem liegt, unendlich lang vorkommt. Wie ein Jahr Schule, um dann zwei Sekunden Wochenende zu haben. Dass die Schule ein Ort war, an den viele nicht gerne gingen, war wohl allen bewusst. Aber ehe man sich versieht, ist Donnerstag.

Und alles war irgendwie vergessen. So schnell gehörte Vincent irgendwie dazu und man kümmerte sich kaum um seine abweisende Art. Dass sie ihn verprügelt hatten, wurde erfolgreich verdrängt und das gute Gewissen war zurück. Dass Lissa gekotzt hatte, war fast zu lange her, um noch wichtig zu sein. Das Leben musste weitergehen. Keine Zeit für die Tränen, die einem nachts den Schlaf raubten.

Die Schule behauptete von sich selbst, wichtig genug zu sein, dass man alles andere geflissentlich in den Hintergrund rücken lassen kann. Welcher Schüler brauch schon ein Privatleben? Schule ist der Mittelpunkt! Widmet euch voll und ganz der guten deutschen Bildung!

Und doch war da ein Lichtblick und das war Michaels Party, die nicht mehr weit entfernt lag. Die perfekte Gelegenheit, zu vergessen, wo man wirklich in der Gesellschaft stand. Für einen Moment betrunkene Freiheit, Spaß und Reue.

Aber es war noch Donnerstag. Noch. Für vielleicht vierzehn Minuten. Lissa saß vor ihrem Schreibtisch und versuchte, das Bio-Referat vorzubereiten. Es war eine dieser beschissenen Aufgaben, die sie so oft bis zum letzten Tag aufschob. Und doch hing ihre verdammte Note und damit ihr Abiturdurchschnitt und schließlich wohl das ganze Leben davon ab. In Lissas Kopf tobten häufig solche Endzeitszenarios, wenn sie eigentlich sinnvolle Aufgaben zu erledigen hatte.

Irgendwo in Haus knallte eine Tür. Sie kniff die Augen zusammen, um den Text auf ihren Laptop besser erkennen zu können. Stimmen wurden lauter, drangen dumpf und erstickt zu ihr hoch.

„Bitte nicht", flüsterte sie und hielt sich die Hände an die Schläfen. Wirklich, es war ein ziemlich beschissener Abend. „Seid leise, seid leise, seid leise."

Aber es hatte keinen Zweck mehr. Wenn ihre Mutter und ihr Bruder stritten, wuchs in ihr diese unglaubliche Wut. Die lauten Stimmen, die sich gegenseitig zu hassen schienen, jagten ein Ziehen durch ihren Bauch. Am liebsten würde sie die beiden selber anschreien, endlich mal ihre verdammten Fressen zu halten.

Sie stand auf, eilte aus ihrem Zimmer. Nur wenig entfernt standen ihre Mutter und Phil, oder tigerten umher, und regten sich darüber auf, dass Phil sein Leben in die Tonne schmiss. Und dass Lissa ja so eine tolle Tochter wäre, die immer alles richtig machte. Wenn ihr wüsstet!

Ja, Lissa war das tolle Mädchen, das immer pünktlich zu Hause war. Das seine Hausaufgaben erledigte, immer gute Noten hatte, freundlich war, so viel besser, als ihr Bruder, der nicht an seine Zukunft dachte, der alles, was seine Eltern je für ihn getan hatten, in den Dreck schmiss. Er sollte sich ein Beispiel an seiner Schwester nehmen, die immer alles richtig machte.

Aber für welchen Preis?

„Ihr könnt mich mal", sagte Lissa.

Zwei Augenpaare sahen sie an. Auf einmal war es so still.

„Was hast du gesagt?", fragte ihre Mutter. So schnell bröckelte das Idealbild ihrer Tochter.

Lissa schüttelte nur den Kopf. Es tat weh. Sie hatte es nie wirklich mitbekommen, dachte immerzu, sie würde den ganzen Kack für sich selbst machen. Doch in Wahrheit tat sie es für ihre Eltern. Und sie hatte es nicht gemerkt.

Sie lief an den beiden vorbei die Treppe runter, schlüpfte in ihre Schuhe, zog sich die Jacke über und verließ das Haus. Jetzt war sie es, die ungezogen sein musste.

Es trieb sie zu dem Park in der Nähe, das Stück Grün, das wohl für ein wenig Abwechslung und Frische in der Stadt sorgen sollte, doch lediglich ein weiterer, perfekte Platz für die Müllablagerung war. Normalerweise hätte sie wohl Angst gehabt, und irgendwo in ihrem Bauch grummelt es auch warnend, doch etwas war anders und zum ersten Mal wurde sie nicht übermannt von dieser schrecklichen Vorahnung.

Eigentlich sind wir mehr, als dasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt