Kapitel 2

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Der Tag brauchte unglaublich lang, um zu vergehen. Aus irgendeinem Grund, hatten sich die Zeiger der Uhren nicht dazu durchringen können, im Laufe des Tages doch schneller voranzuschreiten. Lissa hatte nur einen weiteren Kurs mit Vincent. Physik. Ein Fach bei dem sie sich auch nicht wirklich erklären konnte, wieso sie es nicht abgewählt hatte.

Er sagte kein Wort. Und wie sie es von einigen Mitschülerinnen, die sich bereitwillig auf das interessante Thema eines mysteriösen, neuen Jungen stürzten, erfuhr, hatte er auch in allen anderen Kursen lediglich seinen Namen genannt, um sich dann für immer schweigend in die letzte Reihe zu setzen.

Während der Mittagspause saß sie mit einigen Jungs und Mädchen, die sie grob zusammengefasst als eine Art Clique bezeichnete, jedoch recht wenig mit echter Freundschaft zu tun hatten, auf den Stufen eines staubigen Treppenhauses, als Vincent von der Seite aus dem Gang mit den Schließfächern kam und, ohne einen Blick in die Richtung der Schüler zu werfen, das Schulgebäude hinaus in die Kälte verließ.

„Komischer Typ", stellte ein Junge namens Michael fest.

„Er sieht nicht schlecht aus", gab Melanie ein weiteres Mal kund und erntete das Kichern eines anderen Mädchens.

„Er spricht mit niemandem. Ich find das ziemlich unhöflich", meinte Michael. „Eher ein Arschloch."

„In Mathe musste er sich neben mich setzen, weil sonst nichts frei war", erzählte Lukas. Dabei konnte Lissa seinen Tonfall nicht wirklich deuten. Etwas widerwilliges lag darin. Doch lag es eher daran, dass er Vincent nicht neben sich haben wollte, oder wollte er generell nicht darüber reden?

„Was weiß man über ihn?", fragte Michael.

„Nicht viel."

„Er soll wohl vorher nur auf so krasse Privatschulen gegangen sein", sagte jemand. „So'n verwöhnter Schnösel."

„Hält sich also für was besseres, das Bonzenkind", meinte Michael verächtlich. Anscheinend war seine Meinung von Vincent nicht gerade hoch.

„Vielleicht ist er auch einfach nur schüchtern", schlug ein Mädchen vor und sah Michael vorwurfsvoll an.

„So einer ist doch nicht schüchtern. Hast du seinen Blick gesehen?"

„Total krank, oder?"

„Lissa, so siehst du heute auch aus", scherzte Melanie und deutete auf die dunklen Schatten unter Lissas Augen.

„Hm", machte Lissa. Mal davon abgesehen, dass sie wirklich todmüde war, wuchs in ihr mit jedem Wort, das sie über den Neuen verloren, ein ungewollte Wut. Wie konnten sie es wagen, so abschätzig über ihn zu reden? Wie nur konnten sie ihn verurteilen, ohne zu wissen, wer er war? Wieso war Lissa wütend? Wieso fühlte sie sich so abgrundtief elendig?

So zurück geschmissen in Vergessenheiten. So erinnert. Weil ihr Vincents Art zu Gehen, so schrecklich bekannt vorkam.

Sie wollte ihn kennenlernen. Doch nicht aus dem Grund, aus dem Melanie ihn vielleicht kennenlernen wollte. Sie brauchte doch nur ein Wort, eine Antwort. Damit sie sich vergewissern konnte, dass er es nicht war. Und dass er nicht vielleicht noch einmal auf der Brücke auftauchen würde.

Draußen war es arschkalt und ekelhaft. Was am Morgen noch Nebel gewesen war, hatte sich mittlerweile in einen Sprühregen verwandelt, der von allen Seiten gleichzeitig anzugreifen schien. Wind fegte über Vincents Kopf und ließ ihn frösteln, da ihn die kurz rasierten Haare wohl kaum vor der Kälte schützen konnten. Der Wind riss die feinen Tropfen und den grauen Rauch seiner Zigarette mit sich, der sich irgendwo im Nichts verlor.

Er hasste Deutschland. Er hasste diese verdammten Schüler, die ihn alle anstarrten, als wäre er der erste neue Mitschüler in deren Leben. In ihren Blicken lag etwas, das danach verlangte und schrie, besser zu sein, als alle anderen. Sie wollten sich besser fühlen, als das, was diese Stadt in Wahrheit aus ihnen gemacht hatte. Also war Vincent wohl die perfekte Gelegenheit, einen Menschen zu jemandem zu machen, der noch tiefer stand, als man selbst.

„Scheißkinder", sagte Vincent. Seine Worte flogen mit dem Regen davon. Scheißwetter. Scheißumzug. Scheißleben.

Wenn man schon am tiefsten Punkt angelangt war, wie konnte es dann noch immer schlimmer werden?

Er rauchte die Kippe zu Ende und harrte doch bis zum Klingeln der Schulglocke in der Kälte aus. Er wollte sie nicht sehen. Die Gesichter, die er um alles in der Welt kennenlernen wollte, die aber doch nur voller Hohn waren. Wie anders sie gucken würden, wenn sie ihn kannten. Es war bei weitem nicht einfach, immer allein zu bleiben. War es bei diesen Gefühlen denn überhaupt noch gerechtfertigt, dass die eigene Sicherheit vor dieser verfickten Einsamkeit kam?

Nachdem er die letzten beiden Stunden totgeschlagen hatte, war er gerade auf dem Weg hinaus in das Kackwetter, als er eine Stimme hinter sich hörte.

„Ey! Warte, Mann!"

Vincent blieb bloß stehen, ohne sich umzudrehen. Neben ihm hielt ein Junge, der ihm tatsächlich bekannter vorkam, als alle anderen. Seine braunen Augen verschwommen in der Dunkelheit des Nachmittags.

„Ich bin Lukas. Du weißt schon. Aus Mathe", sagte er.

Mathe. Das einzige Fach, in dem er es nicht geschafft hatte, alleine zu sitzen. Vincent zog eine Augenbraue hoch.

„Am Freitag schmeißt ein Kumpel ne Party. Sturmfrei. Willst du kommen?", fragte Lukas. Sein Atem bildete Wölkchen in der Luft. „Zum Kennenlernen. Vielleicht haste ja Bock."

Wie verlockend das klang.

Niemand darf dich kennen!

Niemand darf dich kennen!

Vincent schloss die Augen. Dann schnitt sein eiskalter Blick in Lukas Augen.

„Nein", sagte Vincent und wollte noch etwas hinzufügen. Doch im Prinzip war das schon alles, was gesagt werden musste.

Nein.

Lukas sah ihm hinterher, als Vincent, ohne noch mehr hinzuzufügen, über den Schulhof davon lief. Er spürte diesen kalten Blick immer noch so intensiv, als hätten die eisblauen Augen nie weg geschaut. So hart und direkt. So vollkommen anders, als Lukas Augen.

Er wusste nicht, ob er enttäuscht war. Vermutlich schon. Vielleicht war es ja naiv gewesen, zu denken, dass es gut wäre, Vincent etwas kennenzulernen, bevor man so kritisch über ihn urteilte. Doch anscheinend hatte Michael recht und er war doch nur ein reicher Snob, der sich irgendwie auf diese dreckige, öffentliche Schule verirrt hatte. Weit, weit weg von einem Leben, von dem Lukas nur hätte träumen können.

Seufzend machte auch er sich auf den Weg. Ein komisches Konzept war das, dass man immer zu den unpassendsten Momenten, die unpassendsten Gefühle hatte.

Eigentlich sind wir mehr, als dasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt