Vincent konnte nicht erklären, was ihn dazu gebracht hatte, herzukommen. Mal davon abgesehen, dass sein Vater durchgedreht war und er todmüde und zerstört war, konnte ihn wohl die komplette Stufe nicht wirklich leiden. Natürlich, was bildete er sich auch ein? Aber vermutlich war es der Ruf des kostenlosen Alkohols gewesen, der so verheißungsvoll durch seine Adern geflogen war.
Und hier war er. Und es schien niemanden zu interessieren.
Die Party war, wie eine dieser Feiern, die er früher mit den Leuten von den Internaten gefeiert hatte. Es gab Alkohol im Überfluss, alle machten eigentlich nur Scheiße, um auf dem Wohnzimmertisch des reichsten Typen, tanzend Geheimnisse zu verteilen. Für eine Nacht großartig fühlen. Es war immer dasselbe. Erbärmlich.
Er lief durch die tanzenden Körper und nickte Lissa zu, die alleine auf einem Stuhl saß und wohl ziemlich in ihren Gedanken versunken war. Doch als sie ihn sah, lächelte sie und ihre Augen waren dabei so ehrlich.
„Was machst du denn hier?", fragte sie und klang, entgegen ihrem vorher so missmutigen Gefühl, doch erfreut. „Ich meine... Ich hätte nicht erwartet, dass du kommst."
„Das Bier ruft", erwiderte er nur und lächelte, ohne es zu fühlen.
„Auf dem Balkon", lachte Lissa und deutete in die Richtung, aus der eine kalte, aber doch frische Luft in den Raum wehte. Dann sah sie Vincent nach, der festen Schrittes hinaus lief.
Er hat einen wunderschönen Körper, dachte sie. Würde er doch nur öfter Lächeln und es meinen. Er wäre der schönste Junge der Welt.
Dann schüttelte sie den Kopf, starrte etwas verwirrt auf die Flasche in ihrer Hand und dachte an die Brücke, auf der er gestanden hatte und an sein kleines Geheimnis. Es konnte nicht sein. Durfte nicht. Lieber nicht.
Michael sah nicht, dass Vincent gekommen war. Er hatte sich in eine andere Welt geschossen, hatte von einem Kumpel eine kleine Pille bekommen und schwebte nun irgendwo zwischen vollkommener Ruhe und dem Drang, etwas zu zerstören. Doch nichts konnte ihn von dem Sofa bringen, an das er geklebt war. Nichts half. Vielleicht war das besser so.
Lissa sah hinüber zu ihm. Sein Blick starrte apathisch ins Nichts. Sie konnte nicht anders, doch ihr Mund verzog sich. Sie konnte ihn absolut nicht ausstehen. Dabei war er einmal so nett gewesen. Der netteste Mensch, den sie kannte, ihr einziger, wahrer Freund. Und jetzt? Jetzt war er ein Arschloch, wie jedes andere.
Vincent kam zurück mit einem Becher, bis zum Rand gefüllt mit etwas Gemischtem.
„Auf den Abend!", rief er und stieß das Getränk gegen Lissas Flasche. Dann leerte er den Becher in einem Zug. Die viel zu ungleiche Mischung brannte sich ihren Weg durch seinen Hals. Eine wohlig bekannte Wärme breitete sich in ihm aus, schoss mit dem Blut durch seine Adern.
Genau das war es! Das wollte er. Entkommen, auch wenn er dachte, drüber hinweg zu sein. Alkohol war immer noch zu süß.
„Wie geht es dir?", fragte er Lissa und setzte sich neben sie. „Ist es besser?"
„Ja", sagte sie nur, wollte nicht darüber reden. Denn auch, wenn es einige Bedeutung hatte, lag es hinter ihr und sie war ein Meister darin, die ungewollten Dinge zu verdrängen.
„Da bin ich froh", erwiderte er. Und er war es wirklich.
Nach zwei weiteren Bechern spürte er, wie sein Herz schneller schlug. Das Getränk kickte und dann übermannte es ihn mit einer solchen Wucht, dass er Lissa breit angrinste und rief: „Vergiss alles! Das hier ist das Leben!" Und er wusste selber nicht einmal, was er damit meinte.
Dann verschwand er in der Menge, um zu ertrinken.
Die Zeit raste, doch es wurde nur immer mehr. Er konnte nicht aufhören zu trinken und schwebte und fiel. Und sie schienen es wirklich toll zu finden, dass er da war. Denn dann spürte er Mädchenblicke, die ihn niemals erreichten. Er ging unter und alles passierte und nichts. Doch es war gut. Es war gut, solange sein Blick sich auf nichts wirklich fokussieren konnte, solange seine Gedanken außerhalb seines Kopfes tobten, solange das Rauschen des Blutes in seinen Ohren den Rest der Welt übertönte.
Es war verzerrte Musik, flüchtige Körperkontakte, das gezwungene Lächeln von Lissa, das durch den Raum schwebte, erstickende Rufe und Lukas nackter Oberkörper. Dann fiel er.
Der Raum, in den man ihn brachte, wurde nur von einer Schreibtischlampe erleuchtet. Es war ein sanftes Licht im Vergleich zu dem Gewitter im Wohnzimmer. Irgendwann hörte er gedämpft die Musik an seine Ohren dringen. Doch die war weit weg, weit, weit weg. Er richtete sich auf, lag auf einer Matratze, einem Bett. Er sah kaum etwas und sein Hals war, wie zugeschnürt.
„Scheiße", murmelte er.
Natürlich passierte das. Er hatte seit Tagen kaum vernünftig gegessen, war übermüdet und hatte vergessen, mit wie viel Hochprozentigem er sich zugeschüttet hatte. Und das nur, um zu vergessen. Nur, um sich wie überfahren zu fühlen. Eine halb zermatsche Maus am Straßenrand.
Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war. Undeutlich saß eine Person auf einem Schreibtischstuhl, die Beine angezogen, den Oberkörper zurückgelehnt. Er trug kein Oberteil mehr. Vielleicht war es Lukas.
„Lukas", sagte Vincent. Sein Mund fühlte sich zu trocken an.
„Geht's?", fragte Lukas. Er klang nicht weniger betrunken, als Vincent. Und wenn er ehrlich war, fühlte er sich auch so. Erschossen. Sterbend im Schreibtischstuhl.
„Gib mir paar Minuten, dann geht's mir wieder gut", krächzte Vincent und legte sich zurück auf das Bett, wem auch immer es gehörte.
Verdammte Scheiße, wie er das hasste.
Selbst Schuld.
Es würde wieder aufhören, das tat es immer. Er musste nur durchkommen.
„Ich hab Wasser zu trinken mitgenommen", informierte Lukas, doch Vincent schüttelte nur den Kopf. Er wollte nichts, wollte absolut gar nichts. Nur da liegen und dem Brummen in seinem Kopf lauschen, bis es aufhörte.
Was Lissa von ihm denken musste. Oh, er war wohl ganz unten bei ihr durch. Nach dem Zusammenbruch. Was ein Müll.
Es dauert endlose Tage, bis er sich im Stande fühlte, wieder aufzustehen. Er setzte sich auf der weichen Matratze auf, die Decke um ihn herum war zerknüllt und doch weich, warm, fast schwitzig. Er konnte wieder sehen. Es war ein Jungenzimmer, ziemlich schlichte Einrichtung. Dem Bett gegenüber stand ein riesiger Flachbildschirm, darunter mehrere Konsolen. Dass Michael ihn in sein Zimmer ließ hätte er niemals erwartet, aber vielleicht wusste Michael auch gar nichts davon.
Rechts vor ihm saß Lukas immer noch so, wie er ihn zuletzt gesehen hatte. Er starrte ins Leere, bemerkte kaum, dass Vincent wieder lebendig war. Wobei lebendig auch nicht wirklich stimmte.
„Lukas", sagte Vincent ein weiteres Mal, denn mehr fiel ihm nicht ein.
Der Blonde sah auf und nun war er es, dessen Blick sich scharf und stechend in Vincent bohrte. Er fühlte sich so schwach, so verdammt fertig.
„Ich hab total verkackt", murmelte Vincent. „Ich bin so verdammt erbärmlich."
Aber Lukas schüttelte den Kopf. Mit einem Mal stand er und kurz darauf saß er auf dem Bett neben Vincent. Sein nackter Oberkörper schimmerte leicht im Licht der Schreibtischlampe. Er war dünn und doch schliefen da Muskeln unter seiner unstetigen Haut. Er konnte den Blick nicht von Vincent wenden. Denn auch, wenn er unendlich beschissen aussah, war er der schönste Junge der Welt.
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Eigentlich sind wir mehr, als das
Teen FictionHast du auch Geheimnisse? Geschichten, von denen niemand weiß? Die dich nachts in den Wahnsinn treiben? Eigentlich steckt doch viel mehr hinter den Fassaden der Mitschüler, als man denkt. Nicht nur hinter den eisigen Augen des mysteriösen Neuen, son...