Etwas hatte sich verschoben. Vielleicht einer der Fäden, an denen die immer gleichen Geschehnisse des Stadt- und Schullebens geplant waren. Was man vorher noch hinter Lächeln verdrängt hatte, brach an die Oberfläche, als würde das Eis in einem See zerspringen.
Lissa stand an ihrem Schließfach, links von ihr Michael, rechts Melanie. Ihre Irgendwie-Freundin wurde die Sorgenfalte zwischen ihren Augen nicht los und die Augen wiederum, eingerahmt von billiger Mascara, wirkten wässriger als sonst. Vielleicht war es nur die Müdigkeit. Dabei wusste Lissa genau, woran sie dachte.
„Hör mal, Melanie", sagte sie und unterbrach irgendein Gespräch, das im Gange war. Sie schloss die Spindtür und wandte sich um, als ihr Blick auf Vincent fiel.
Er lief durch den langen Flur hinüber zu seinem Schließfach. Doch er lief komisch, leicht zur Seite gebeugt. Sie hatte ihn gestern gesehen. Auf der Brücke. All der Dreck, der an ihm geklebt hatte.
„Verpiss dich, Wichser", murrte Michael, dabei hatte Vincent nie vorgehabt, zu bleiben.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?", rief Lissa. Sie ließ die Bücher neben ihren Rucksack auf den Boden fallen und drückte Michael gegen die eisernen Fächer. Ihre Hand bohrte sich in seine Schulter.
Etwas erschrocken sah er sie an und in jeder anderen Situation hätte er es wohl unglaublich geil gefunden. Doch Lissas Augen kochten vor Wut.
„Sag schon, was habt ihr getan?" Ihre Stimme war viel zu hoch, schallte durch den ganzen Flur.
„Li... ssa... Wir. Ich. Ich konnte das nicht ertragen. Ich weiß, du willst nicht drüber reden. Aber ich konnte es nicht ertragen, wenn ich daran gedacht hab, was er dir angetan hat", erklärte Michael und nun war es an ihm, die Wut aufkochen zu lassen.
Fassungslos ließ sie von ihm ab.
„Was zur...?"
Wie konnte dieser Junge nur so blöd sein?
Vermutlich war es die Wut, die sie dazu trieb. Unter normalen Umständen hätte sie wohl niemals ein solches Aufsehen erregt. Sie, das Mädchen, dass für immer unbeachtet blieb. Ein weiteres Kind in einer Masse von Niemanden. Nun war ihre Stimme so laut, dass sie durch den ganzen Flur schallte. Und hoffentlich durch die ganze Welt.
„Damit es alle kapieren!", rief sie und sie konnte immer noch nicht glauben, was für ein Müll sich Köpfe ausdachten, die mit Gerüchten gefüttert wurden. „Vincent hat mich nicht angefasst. Und das ist die Wahrheit!"
Es war nicht Vincent.
Und es war lange her.
„Bist du jetzt zufrieden, Michael?"
Wie ihr Blick ihn erstach. Oh Gott, das war falsch, so falsch. Das war alles andere, als das, was er wollte. Konnte er nicht ihr Retter sein? Ihr Ritter in goldener Rüstung? Musste er für immer unbeachtet bleiben?
„Lissa, es tut mir leid, ich dachte wirklich...", murmelte er und fiel aus seiner Rolle. Eigentlich war er kein Arschloch. Eigentlich wollte er bloß sie.
„Entschuldige dich lieber bei Vincent", entgegnete sie, dann sammelte sie ihre Bücher vom Boden und stapfte davon.
In diesem Moment begriff Michael, dass er sich in die totale Scheiße reingeritten hatte. Denn Lissa war kein Mädchen, das man besaß.
Im Unterricht herrschte eine andere Stimmung als sonst. Zwar waren alle irgendwie wacher, dafür aber umso stiller. Sie alle wussten es, wieso auch immer. Sie wussten, was man dem Jungen, der sich in die letzte Reihe gesetzt hatte, angetan wurde. Nur waren sich einige noch nicht sicher, ob sie es gut oder schlecht fanden. Denn irgendwo hatte es der Scheiß-Russe sicher verdient.
Und dann schauten sie zu dem Mädchen, von dem man sagte, es hätte gekotzt. Und einige dachten schon, es wäre schwanger. Und der Russe war der Vater. Verdammt, wie schnell die Gerüchte durch Schulflure hetzten.
„Faust steckt also in einer Krise." Die Stimme des Lehrers leierte durch den Raum. Er selbst hatte keine Ahnung, wie oft er dieses Thema schon durchgekaut hatte. Jedes Jahr erneut. Und im Gegensatz zu allen anderen Deutschlehrern schien er der einzige zu sein, der Goethes großkotziges Geschreibe absolut nicht mehr ausstehen konnte. Dabei war es am Anfang eine solche Liebe gewesen. „Er ist hin- und hergerissen. Diese Polarität lässt sich auch in der Raumbeschreibung wiederfinden." Er sieht durch die Reihen. Sie alle scheinen in einer anderen Welt zu sein. „Lissa. Kannst du das weiter erläutern?"
„Fausts Studierzimmer ist in einem gotischen Stil gebaut. Mit der Polarität ist die gleichzeitige Enge des Raumes und die Weite nach oben gemeint. Er sehnt sich nach Licht und Aufklärung und nach Gott."
Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Auch, wenn das mitten in der Nacht geschehen war. Der Lehrer wollte schon anerkennend nicken, als sie weitersprach, den Blick nicht mehr auf das Papier vor ihr gesenkt, sondern in eine ungewisse Ferne gerichtet.
„Und ich denke, Goethe hat es geschafft, damit die Gedanken vieler Jugendlicher zusammenzufassen. Wenn auch in ziemlich übertriebener Form."
Denn wir suchen doch alle nach mehr. Wir wollen doch alle wissen, wieso.
In der Mittagspause suchte Lukas nach Vincent. Er wusste noch nicht, was er sagen wollte, und je näher er der Stelle kam, an der Rauch in den Himmel stieg, desto schneller klopfte sein Herz. Und doch musste er reden. Er musste etwas ins Reine bringen, auch wenn das niemals vollkommen klappen konnte.
„Vincent", sagte er.
Er regnete nicht. Trotzdem war es grau. Der Himmel, der Zigarettenqualm, die Mauer, hinter der sich die Raucher sammelten, um nicht von den Lehrern gesehen zu werden.
„Ich weiß, das klingt jetzt ziemlich bescheuert", fuhr er fort und schaffte es nicht, in Vincents ausdruckslose Augen zu schauen. „Aber ich wollte mich entschuldigen. Ich weiß, das ist mega dämlich. Und nichts könnte das wieder gut machen. Das, was wir getan haben, ist unverzeihlich. Aber Michael war so wütend. Er war nicht zu stoppen und wir dachten doch alle, dass du..." Und was war mit mir? War ich denn wütend? Oder hab ich mich wieder bloß in den Schatten eines anderen gestellt, um irgendwie mitzukommen?
„Okay", sagte Vincent. Wenn er ehrlich war, scherte es ihn einen Scheißdreck, ob es den Pissern leid tat. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben, also konnte er sie weiter hassen.
Oder?
Da war etwas an Lukas. Die Art, wie er da stand. Er war kein Loser. Und wäre die Welt nicht so, wie sie war, dann wäre er ein König. Hier war er bloß ein Bauer und musste gehorchen. In seinen Augen sah Vincent, dass es ihm wirklich aufrichtig leid tat. Dass er sich selber dafür verabscheute.
Dieses wohlbekannte Gefühl. Eigentlich war Lukas wunderschön. Ihm standen die grauen Wolken.
„Wirklich. Ist okay", wiederholte Vincent und zuckte kaum merklich mit dem Mundwinkel. Trotzdem, ein Lächeln das Lukas nicht entging.
„Okay", sagte Lukas. Er nickte. Dann ließ er Vincent alleine, denn er war der Junge, der niemanden an sich ran ließ.
Eigentlich war überhaupt nichts okay.
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Eigentlich sind wir mehr, als das
Подростковая литератураHast du auch Geheimnisse? Geschichten, von denen niemand weiß? Die dich nachts in den Wahnsinn treiben? Eigentlich steckt doch viel mehr hinter den Fassaden der Mitschüler, als man denkt. Nicht nur hinter den eisigen Augen des mysteriösen Neuen, son...