Kapitel 7

7 3 0
                                    

Wieder eine schlaflose Nacht. Durch das geöffnete Fenster fegte eisige Luft in Vincents Zimmer, das von seltsam vielen Schatten ergriffen war. Es war nicht sein Zuhause, aber das gab es nirgendwo. Doch noch nie war es ihm so schwer gefallen, in einem neuen Zimmer zu schlafen.

Es war die Angst. Die Angst vor den Schatten, vor den Menschen da draußen, die nach ihm suchten. Angst vor diesen verdammten Mitschülern.

Immer, wenn er die Augen schloss, öffnete er sie sofort wieder. Es ging nicht. Es gab keine Ruhe.

Bilder huschten durch seinen Kopf, wild und durcheinander. Lissas Gesicht hinter dem Fenster, erschrocken, wissend. Woher kam ihr Blick, der ihn so davon abgebracht hatte? Woher kam diese Tiefe, wenn ihre Blicke sich auf dem Schulflur trafen? Sie war die erste, die er kannte. Obwohl er sie überhaupt nicht kannte.

Er wollte sie besser kennen lernen. Sein größter Wunsch war es, Freunde zu finden. Aber er durfte sie nicht ansprechen, durfte sie nicht einmal angucken, um zu hinterfragen, was in ihren Augen lag.

Sie hatte ein Geheimnis, aber wollte er es überhaupt herausfinden? Wollte er nicht viel lieber, dass sie lächelte und vergaß, warum das Leben ihr weh tat? Wollte er sie nicht viel lieber in den Arm nehmen, sanft und vorsichtig, als wäre ihre helle Haut aus Glas?

Und dann war da Lukas, auch so voller Geheimnisse. Was war es, dass er nicht der König sein konnte? Dass er nicht in der Mitte der Welt stand, die Dunkeln Augen blitzend, der Körper aufgerichtet und stark? Etwas hielt ihn zurück, der zu sein, der er sein wollte. Und obwohl Vincent nicht wusste, ob er ihm schon verzeihen konnte, wollte er ihn kennenlernen.

Und er wollte Michael kennenlernen. Einfach um zu wissen, wer er überhaupt war.

Er konnte nicht einschlafen. Verdammte Scheiße, er brauchte was. Und wie gut, dass er sich im richtigen Viertel befand.

Also schwang er sich aus dem Bett, zog sich eine Jacke über den nackten Oberkörper und schlüpfte in eine Jogginghose. Dann lief er so leise, wie er nur konnte, aus der ekelhaften Wohnung hinaus in die kalte Freiheit.

Es dauerte nicht lange, bis er eine Gruppe dunkler Gestalten gefunden hatte. Sie rauchten und tranken auf einem verlassenen Kinderspielplatz, als wären sie die Helden der Nacht. Etwas abschätzig beäugte Vincent die jungen Männer. Ob sie sich toll fühlten? Ob sie es genossen in dieser hinterweltlerischen Ecke zu verkommen? Vincents Mine war unergründlich, als er auf die vier Typen zukam. Eine eiserne Fassade.

„Hey, habt ihr Stoff?", fragte er.

„Was willst du denn hier, Kleiner? Verpiss dich!", kam es zurück.

Doch Vincent ließ sich nicht beirren. Er hatte genug Geld dabei, um das doppelte, was die Typen zu verticken hatten, zu kaufen.

„Ich will was kaufen", sagte Vincent.

„Wir verkaufen nichts an Kinder."

Pff, und an wen dann?

„Dann komm mal mit", meinte ein anderer und watschelte in eine dunklere Ecke davon.

Vincent folgte ihm. Sein Herz schlug schneller. Zwar war das hier viel besser, als billiges Gras von dem Mitschüler zu kaufen, aber gleichzeitig war es auch gefährlicher. Etwas entfernt von der Gruppe blieb der Mann taumelnd stehen und sah Vincent auffordernd an.

Er schob ihm einen Zehner zu. „Gras und... irgendwas zu Schlafen."

Die Mundwinkel des Typen zogen sich nach oben. Ein raues Lachen entwich ihm.

„Da hab ich genau das richtige für dich", lachte er und holte erst ein Tütchen Marijuana und dann eines mit weißem Pulver aus seiner Jackentasche. „Das haut dir die Birne weg. Richtig geiles Zeug."

„Okay", schlug Vincent ein. Er gab dem Mann das Geld, dann machte er, dass er weg kam.

Mit einem etwas flauen Gefühl im Bauch landete er in seinem Zimmer. War es die Vorfreude? Denn das war es, wonach er sich so lange gesehnt hatte. Seit den Partys in Berlin. Er wollte wieder versinken, wollte diese verfickte Scheiße nicht mehr sehen müssen.

Seine Hand zitterte, als er eine Line legte. Bebend atmete er aus. Oh, wie er dieses Leben hasste. Und wie er nun allem entkommen würde.

Er beugte sich über den mickrigen Schreibtisch und zog das weiße Pulver in seine Nase.

Nicht weit entfernt von dem Abenteuer lag Lissa in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Sie hatte die Arme um die Bettdecke geschlungen, während die Kälte, die sie wach hielt, sich langsam in ihr Herz fraß. Dass dieser Junge sie so sehr aus der Fassung brachte. Dass mit einem Mal ihr so perfekt unauffälliges Leben so aus den Fugen geraten konnte.

Sie wollte wissen, wer er war. Aber dann dachte sie sich, dass das nicht richtig war. Denn Vincent konnte man nicht kennen. Da war diese Mauer um ihn errichtet, grau wie der Rauch seiner Zigaretten. Er trat in ein Leben und dachte, er wäre vollkommen egal. Und vielleicht stimmte das früher. Aber war er sich bewusst, dass er drei Menschen verdammt weit aus der Bahn schleuderte?

„Wieso tust du das mit meinem Kopf?", flüsterte Lissa in die Nacht. Wieso bekam sie ihre Gedanken nicht los von diesen eisgrauen Augen?

Eigentlich wollte sie ihn bloß retten, oder? Damit sich diese vergessenen Nächte niemals wiederholen mussten.

Und Lukas?

Lukas schwamm in einem See aus Hass. Und auch, wenn er sich das kaum eingestehen konnte, war er selbst derjenige, den er hasste. Denn er verstand sich selbst nicht mehr.

Was war aus ihm geworden?

Der Spiegel, der hinter ihm eine andere, so düstere Welt zeigte, musste lügen. Denn seine Augen hatten niemals so traurig geschaut. Und die roten Striemen auf seinen Armen waren nie passiert. Wann hatte er vergessen, wie er sich selber anfühlen musste? Hatte er dann die Fingernägel gespürt, als er Angst hatte, in sich selbst zu versinken?

Unmöglich.

Er war doch immer besser gewesen.

Und dann kam dieser verdammte Russe und es gab nichts anderes mehr, an das er denken konnte, außer die Frage, wie sich wohl die fremde Haut anfühlen würde.

„Reiß dich zusammen", sagte sein Spiegelbild, doch Lukas wusste, dass er diesen Punkt längst überschritten hatte.

Eigentlich sind wir mehr, als dasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt