Vincent wusste, dass er nicht lange liegen bleiben durfte. Der Regen und die Schwäche seines Körpers würden ihn blitzschnell in eine Erkältung werfen und das war das letzte, was er wollte. Mit einem Stöhnen richtete er sich auf, um sich dann mit zusammengepressten Zähnen auf beide Beine zu wuchten. Sein Oberkörper schmerzte dumpf, sodass er sich nach vorne beugen musste. Er wusste nicht, wie lang er da gelegen hatte, doch der Himmel war mittlerweile pechschwarz. Regentropfen blitzten im Schein einer beklebten Straßenlaterne.
Er humpelte los zu dem Ort, den er nun Zuhause nennen musste und verfluchte sich selbst am meisten. Alles für ein bisschen Gras. Er war der größte Idiot unter dem Wolkenhimmel.
Auf der Brücke hielt er an, ohne wirklich zu wissen, wieso. Drehte sich in Richtung Abgrund. Seine Hände umschlossen das glitschige Geländer, seinen Blick richtete er in die ungewisse Dunkelheit. Als hätte er jemals genug Mut. Dann sah er auf und suchte das Fenster, das in der Nacht erleuchtet gewesen war. Es brannte Licht und da saß sie. Lissa. Konzentriert oder in einer anderen Welt.
Für eine Weile beobachtete Vincent sie einfach nur. Sie saß fast reglos da, arbeitete an ihren Hausaufgaben oder machte sonst irgendwas, was Mädchen so taten. Ihr Kopf neigte sich nach oben, ihr Blick huschte aus dem Fenster und da trafen sich ihre Augen. Gespielte Unschuld und eine Traurigkeit, die nicht mehr verborgen werden konnte.
Wer war sie?
Die Haustür quietschte und drinnen wurde er von Einsamkeit empfangen. Er verabscheute diese Wohnung zutiefst. Nicht nur, weil er definitiv anderes gewohnt war, sondern auch, weil sie ihn jedes Mal daran erinnerte, dass Menschen hier vergessen wurden. Das Licht des stumm geschalteten Fernsehers flackerte bis in den schmalen Flur und dann war da sein Vater.
„Bist du komplett bescheuert?", schrie er, packte seinen Sohn am Arm und zog ihn in das winzige Wohnzimmer. „Wo warst du?"
Vincent unterdrückte ein Keuchen. Es gab Regeln. Wieso hielt er sich nicht daran? Wieso hielt er sich nie an Regeln, obwohl das doch so einfach sein könnte?
„Im Park", war alles, was er dazu zu sagen hatte.
Die Ohrfeige schallte durch die Stille der Wohnung. Durch seinen verschwommenen Blick sah Vincent die Hausfrau, die aus der Küche hinaus sah und verbittert den Kopf schüttelte. Sie war die einzige, die noch mitgekommen war.
„Was hab ich dir gesagt? Was?", schrie der Vater und seine Augen, die genau so grau waren, wie die seines Sohnes, stachen in Vincents Augen.
„Dass ich direkt nach der Schule nach Hause kommen soll", sagte er leise. Er wollte nur weg hier. Weg von seinem Vater.
„Und wieso?"
„Weil es draußen gefährlich ist."
„Und das hab ich nicht zu Spaß gesagt, verstanden?"
Vincent nickte, seine Lippen bebten.
„Und jetzt verschwinde."
Micha Janowski sah seinen Sohn scharf an. So viel hatte er für ihn getan. So viel hatte er geopfert, damit nicht das komplette Leben der Familie in Grund und Boden gestampft wurde. Er war hierher gezogen. Hier, wo man niemals ein Kind lachen hörte. Wo die vergilbte Tapete abblätterte und nicht isolierte Leitungen die Wände schmückten. Wo sie niemand finden sollte.
Und was bekam er als Dank? Was trug Vincent dazu bei? Nichts. War ihm alles egal, was Micha noch versuchte, zu retten?
Wut loderte in seinem Blick, während er Vincent weiter ansah, obwohl er am liebsten weg geschaut hätte. Irgendwo unter der Dreckschicht in seinem Gesicht, erkannte er, dass Vincent Schmerzen hatte. Und dass er Angst hatte. Und eigentlich war doch alles, was er wollte, seinen Sohn zu beschützen. Dafür würde er alles geben und er hatte alles gegeben. Nur leider wusste er nicht, wie man Gefühle zeigte, also mussten die Taten sprechen.
Vincent drehte sich weg und verließ in wenigen Schritten das düstere Wohnzimmer. Kurz darauf knallte seine Zimmertür.
Micha ließ sich auf das durchhängende Sofa fallen. Presste die Lippen aufeinander, hielt sich die Hand vor den Mund. Was war er nur für ein schlechter Vater? Wenn er selber so viel Angst hatte, wie sollte er dann seinen Sohn vor der Angst bewahren? Seinen liebsten Menschen auf der ganzen Welt, dem er schon alles genommen hatte.
Bloß das Leben blieb noch irgendwo zwischen dem Fernsehflimmern und der Welt, die im Regen ertrank.
Bloß einige Meter weiter lag Vincent auf seinem Bett. Das dreckige Licht der Straßenlaternen schien durch das Fenster. Er starrte an die Decke, beobachtete Licht und Schatten, die sich auf der schmutzigen Tapete vereinten.
Er hätte schreien können. Da war so eine Wut in ihm, die beinahe explodierte. Er war wütend auf seinen Vater, der doch auch nichts dafür konnte. Wütend auf die Leute, die sie suchten und ihnen das Leben zur Hölle machen wollten. Wütend auf diese verdammten Schüler, denen nichts wichtiger war, als der Status in der Gesellschaft, den sie niemals erreichen würden.
Doch am meisten hasste er sich selbst. Dafür, dass er das Loch in den Herzen von jedem, den er kannte, immer nur vergrößerte.
Das Leben hatte keinen Sinn. Nicht wirklich.
Er rollte sich auf die Seite, wobei ein stechender Schmerz durch seine Rippen fuhr. Irgendwo in der ungewissen Dunkelheit erblickte er das Foto. Eine Frau lächelte ihm entgegen. Nein, sie lachte. Dieses wunderbare Lachen, das sie selbst am Ende nicht verloren hatte.
„Ich vermisse dich, Mama", flüsterte Vincent.
In dieser Nacht erlaubte er sich, zu weinen. Denn etwas anderes blieb ihm nicht mehr.
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Eigentlich sind wir mehr, als das
Teen FictionHast du auch Geheimnisse? Geschichten, von denen niemand weiß? Die dich nachts in den Wahnsinn treiben? Eigentlich steckt doch viel mehr hinter den Fassaden der Mitschüler, als man denkt. Nicht nur hinter den eisigen Augen des mysteriösen Neuen, son...