Prolog

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In manchen Städten passierten nachts die Geheimnisse. Wo sich die Hauptstraße blitzschnell und beinahe unbemerkt in eine sanfte Wohnsiedlung verwandelte. Wo aus verwitterten, grauen Fassaden hübsch verklinkerte Wohnhäuser wurden. Wo man keine Zweizimmerwohnung für unerhörte Mietpreise mehr bekam, sondern Ehepaare mit zwei Kindern als perfekte Familien in Ruhe und Frieden schliefen. Manchmal gab es Grenzen, manchmal wechselte die Gegend schleichend durch einen Hauch vertrocknetes Grünzeug.

Doch überall passierten Dinge. In jedem Winkel der Stadt. Niemand blieb wirklich verschont.

Während ihre Eltern tief schliefen und ihr Bruder vielleicht schlief, während im Haus nebenan ein Baby schrie und irgendwo zwischen den Welten Drogen zu Geld und dann zu Spaß gemacht wurden, saß Lissa wach an ihrem Schreibtisch. Das düstere Licht der Lampe erleuchtete kaum das gesamte Zimmer und schimmerte fast unbemerkt in die Welt hinaus. Sie hatte Hausaufgaben zu erledigen, irgendwann nach Mitternacht, denn welcher Schüler brauchte schon Schlaf? Wenn man jemand sein wollte, dann erledigte man die Hausaufgaben nachts, da man am Tag seine Heldentaten verbringen musste. Und fünf Stunden Schlaf waren doch mehr als genug.

Natürlich wäre es noch viel schöner, wenn sie wirklich ihre Aufgaben lösen würde, anstatt gedankenverloren aus dem Fenster zu schauen. Sie hatte den perfekten Blick auf die Brücke. Da, wo sich zwei Welten trafen. Die Welt der grauen Fassaden und die der Neubausiedlungen. Ein Graben trennte diese zwei doch so verschiedenen Erdplatten und in genug Metern Tiefe, dass einem bei einem Sturz das Gehirn zermatschen würde, fuhr früher mal ein Zug. Jetzt gab es nur noch die Brücke. Grünlich vermoostest Geländer, beschienen von einer einsamen Straßenlaterne.

Lissa konnte sich nicht sagen, wieso der Ausblick auf die Brücke so viel spannender war, als die LK Aufgaben. War es nicht vielmehr so, dass sie den verkackten Anblick der Brücke hasste, da ihr immerzu ins Gedächtnis gerufen wurde, wie eiskalt das Geländer in der Nacht vor zwei Jahren war. Zwei Jahre waren nichts. Und mit nichts konnte man nicht vergessen.

Sie sah ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Leblose, braune Haare, die ihr Gesicht umrahmten, ohne irgendwie besonders zu sein. Augen, die ins leere starrten. Ein viel zu schmaler Mund. Müdigkeit.

Ein Blick auf das gelblich beleuchtete, blanke Papier vor ihr, dann schaute sie wieder hoch. Vielleicht sollte sie lieber schlafen gehen, anstatt sich weiter mit den Aufgaben zu quälen. Spät genug war es ja.

Eine Person betrat die Brücke. Er kam aus der Richtung des Ghettos, dessen ewig langen Hauswände sich um das Land zogen, wie undurchdringliche Mauern. Lissas Blick blieb auf die Gestalt gerichtet. Es war auf jeden Fall ein Junge, das erkannte sie am Gang. Das wars dann aber auch schon, denn ansonsten war er komplett in schwarz gehüllt. Kapuze über den Kopf gezogen. Einsam und viel zu spät.

Der Junge lief bis zur Mitte der Brücke und blieb da stehen. Er drehte sich in die Richtung, in der Lissas Haus stand, umfasste das Geländer. Er war, wie ein Traum, denn so langsam verschwamm die Realität mit der Müdigkeit. Lissas Interesse war geweckt. Wer er wohl war? Was er wohl mitten in der Nacht auf der Brücke wollte?

Was wollte er mitten in der Nacht auf der Brücke?

Ihr Herz machte einen Satz, dann stand sie auf zwei Beinen, beugte sich nach vorne über den Schreibtisch, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Ihr Atem beschlug die Fensterscheibe immer und immer wieder, schnell, zu schnell.

Der Junge drückte sich am Geländer hoch und schwang die Beine darüber, bis er auf dem kalten, moosigen Metall saß.

Nein!

„Oh mein~", stieß Lissa aus. Ihr Blick huschte hin und her, zu anderen Häusern, doch nirgends brannte Licht. Und auf der Straße war sonst keine Menschenseele zu erkennen. Sie musste etwas tun, sie musste ihn stoppen und mit einem Mal rasten ihre Gedanken, fesselten sie an das Fenster.  Nun hatte ihr vages Spiegelbild panisch aufgerissene Augen.

Und während in ihr ein Sturm losbrach saß der Junge seelenruhig auf den Geländer.

Er merkte nicht, dass er beobachtet wurde. Es war Nacht, alle schliefen, außer er. So, wie es sein musste. Wieso saß er da? Er hatte absolut keinen Plan. Ob er sterben wollte? Bestimmt. Doch die kalten Fesseln der Angst hielten ihn auf dem Geländer. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, folgte den verwahrlosten Schienen, bis sie sich hinter einer Kurve verloren. Dann sah er auf und sah das einzige, erleuchtete Fenster und dahinter das Gesicht eines Mädchens.

Er schloss die Augen. Was ein Scheiß.

Dann schwang er die Beine zurück, sprang vom Geländer runter auf den Bürgersteig und lief zurück in die Richtung aus der er gekommen war. Dabei hinterließ er die verschwindende Wärme eines Menschen und eine panische Angst, die das Zimmer eines Mädchens erfüllte. Bloß sein eigenes Loch, konnte er nicht zurück lassen. Es wäre auch zu schön gewesen.

Eigentlich sind wir mehr, als dasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt