Kapitel 10 | Sky High

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Toms Gesichtszüge wirkten so angespannt, dass Grace kaum wagte ihn anzusehen. Mit bemerkenswert ruhiger Hand füllte er einen großen Schluck Whiskey in das zuvor geleerte Glas und stieß einen tiefen Seufzer aus. Grace atmete schwer. Ihr Blick irrte stoisch im Flugzeug umher, bestrebt jeden Winkel der Kabine zu erforschen, um bloß nicht in seine Augen schauen zu müssen. Toms plötzliche Offenbarung hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Er wusste, wer sie war. Ihre Gedanken kreisten in wilden Zirkeln. Vielleicht hatte er es sogar die ganze Zeit über gewusst. Eine unbändige Wut stieg in ihr auf. Wie konnte er ihr das antun?

„Sprich mit mir, Grace", seine raue Stimme vertrieb den Gedankennebel und zwang sie ihn anzusehen. Toms Blick war sorgenvoll und zugleich überraschend aufmunternd. Seine blauen Augen hielten ihre gefangen und bedeutenden ihr still ihm zu vertrauen. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Die Erinnerungen an die letzten Jahre waren so schmerzhaft, dass Grace sie in einem verzweifelten Versuch sich selbst zu schützen aus ihrer Gedankenwelt verbannt hatte. Sie erlaubte sich nur selten an Tony Gutierrez zu denken und war keinesfalls schon bereit dazu, das Erlebte mit Tom zu teilen. Mit dem Mann, der nach fünfzehn Jahren so plötzlich und unerwartet wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Ganz tief in ihrem Inneren gab Grace ihm immer noch die Schuld daran, wie ihr Leben nach seinem Verschwinden verlaufen war.

„Das ist doch verrückt", Grace verschränkte ihre schlanken Finger viel zu fest ineinander und schüttelte den Kopf. „Du wusstest die ganze Zeit über, wer ich war, oder etwa nicht?", ihre eigene Stimme kam ihr seltsam fremd vor, als sie über blaue, spröde Lippen glitt und die junge Frau räusperte sich schnell. Eine Hand umfing mit zitternden Fingern das halbvolle Glas, das vor ihr auf dem kleinen Tisch stand und sie nahm einen kräftigen Schluck.

Tom nickte kaum merklich und stützte seine Ellenbogen auf die graue Tischplatte. Seine Gelenke schmerzten und er seufzte erschöpft auf, bevor er sprach.

„Ja, es stimmt. Ich wusste von Anfang an, wer du warst. Es tut mir ehrlich leid, Grace." Tom war überrascht, wie leicht ihm das Geständnis und die Entschuldigung über die Lippen kamen. „Ich musste dich einfach wiedersehen. Du hättest dich nie auf dieses Bewerbungsgespräch eingelassen, wenn du gewusst hättest, wer sich hinter dem Angebot wirklich verbirgt."

Grace kaute auf ihrer Unterlippe herum, bis sie Blut schmeckte. Es schmerzte sie zuzugeben, dass Tom recht hatte. Niemals hätte sie auch nur mit dem Gedanken gespielt ihn wiederzusehen, geschweige denn für ihn zu arbeiten. Und jetzt? Grace seufzte und schaute ihn ganz unvermittelt direkt an. Jetzt war sie sich auf einmal ganz und gar nicht mehr sicher, was sie für Tom fühlte. Die anfängliche Wut, die sie nach ihrem ersten Gespräch im Hotel empfunden hatte, brannte nicht mehr so stark in ihrem Bauch und auch der Wunsch nach Rache war mittlerweile nur noch ein entfernter Gedanke, der irgendwo weit hinten in ihrem Kopf zur Ruhe gekommen war. Grace dachte an das Gefühl, das Tom in ihr ausgelöst hatte, als sie sich in ihrer Wohnung vor einander verabschiedet hatten und schloss die Augen, während die Erinnerung an seine sanften Lippen ihr Gehirn flutete.

„Du hast recht", presste sie mechanisch hervor und umklammerte ihr Glas erneut. „Ich wäre niemals gekommen, hätte ich gewusst, dass du es bist." Ihre Finger schlossen sich so fest um das Glas, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Tom, ich habe dich gehasst, nachdem du verschwunden bist", Grace sprach leise und wandte den Blick wieder ab, als sie die Worte aussprach, die die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens bestimmt hatten. Sie konnte den Fluss an Worten, der danach aus ihrem Mund strömte, einfach nicht stoppen. Die Gelegenheit Tom zu sagen, wie schlecht sie sich all die Jahre gefühlt hatte, war gekommen und Grace ergriff sie gierig wie ein ausgehungertes Raubtier seine Beute. Je mehr sie sprach, desto feuchter wurden ihre Augen und irgendwann – ohne dass sie es verhindern konnte - fielen die ersten nassen Tränen auf ihre kalten Hände, die immer noch steif ineinander verschränkt auf ihrem Schoß lagen.

Toms Gesicht wirkte blass, als er ihren Worten lauschte. Er ließ sie reden, hörte aufmerksam zu und sah dabei so traurig aus, dass Grace fast Mitleid mit ihm bekam.

Die Intensität mit der sich Grace ihm offenbarte überraschte sie selbst am meisten. Es war als wollte sie ihn teilhaben lassen am Unglück der vergangenen Jahre und doch konnte sie sich nicht dazu durchringen, ihm die Frage zu beantworten, nach deren Antwort sich Tom am meisten verzerrte. Was geschah mit Grace Parker?

Als Grace endlich verstummte, blieb es still. Keiner der beiden hatte wahrgenommen, dass das Flugzeug mittlerweile gestartet war und die weißen Wolken, wie kleine, flauschige Schafe an ihnen vorbeizogen. Tom hatte seine schwarze Brille abgenommen und rieb sich mit einer Hand die schmerzenden Schläfen.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Grace", begann er vorsichtig und schaute sie dabei unverwandt an. „Es tut mir leid. Ich war so jung. Gott, ich hatte keine Ahnung, wie es dir damals ging." Frustriert fuhr er sich mit langen, schlanken Fingern durch das widerspenstige Haar und schüttelte den Kopf. „Scheiße, ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Mein Leben ging weiter, Grace! Ich habe mir etwas aufgebaut. Das heißt nicht, dass ich dich vergessen habe!", Tom wurde auf einmal sehr ernst. „Das heißt nicht, dass ich", er stockte, „dass ich dich nicht geliebt habe." Der letzte Satz hing zwischen ihnen wie dichter Nebel über einer grünen Wiese.

Grace sprang plötzlich auf, unfähig sich noch eine Sekunde länger zu beherrschen.

„Warum hast du nichts gesagt?", schrie sie ihn an. „Du wusstest, wer ich war!" Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und sie funkelte ihn wütend an. „Ich hatte ein Recht darauf zu erfahren, dass du es wusstest!" Graces Stimme war mittlerweile viel zu laut und beängstigend brüchig. Tom kannte diese Stimme nur zu gut. Er bebte innerlich.

„So viel Recht wie ich darauf hatte zu erfahren, was mit dir passiert ist!", schleuderte er ihr entgegen, verzweifelt bemüht seine Stimme zu kontrollieren. „Gott, schau dich an, Grace! Fast hätte ich dich tatsächlich nicht wiedererkannt! Du siehst wie ein völlig anderer Mensch aus! Wer zum Teufel ist Holly Clark?"

Unfähig sich zu rühren beobachtete Grace, wie Tom aufstand und mit langsamen Schritten auf sie zukam.

„Bitte sag mir, was dir zugestoßen ist, Grace", bat er, seine Stimme nun wieder sanft und leise. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als er seine Fingerspitzen über ihre Wangen gleiten ließ. Die Berührung war so federleicht, dass sie kaum zu ihr durchdrang. Grace hielt den Atem an. Warum tat er das? Sie spürte wie seine Finger zu ihrer Nase wanderten und vorsichtig auf dem schmalen Rücken auf und ab fuhren. So sehr sich Grace auch dagegen wehrte, konnte sie das wohlig warme Gefühl, das sich in ihrem Bauch ausbreitete, nicht ignorieren. Es tat gut, Tom so nah bei sich zu wissen, trotzdem konnte sie ihm die Antworten, die er wollte, nicht geben.

„Ich kann nicht, Tom", flüsterte sie fast schon entschuldigend. „Es ist einfach zu viel passiert ... ich kann dir das einfach nicht anvertrauen."

Tom hielt in seiner Bewegung inne und ließ seine Hände sinken. In der Sekunde begriff er, dass Grace ihm nicht mehr vertraute. Sie hatte Angst, ihm zu erzählen, was in den letzten fünfzehn Jahren wirklich passiert war. Und irgendetwas tief in seinem Inneren riet ihm, sie lieber nicht dazu zu drängen.

„Und jetzt? Was machen wir jetzt?", fragte er in die Stille hinein. Grace sah zu ihm auf und zuckte mit den Schultern.

„Wir fliegen nach Los Angeles, denke ich", antwortete sie und zwang sich zu einem kurzen Lächeln.


Wird Tom Grace das Gehemnis um ihre Vergangenheit in Los Angeles entlocken können? Kann Grace ihre Gefühle für Tom noch länger ignorieren und was passiert, wenn Grace auf Toms neue Freundin Taylor trifft? Bleibt dran und abonniert "Schatten der Vergangenheit".

Schatten der Vergangenheit [Tom Hiddleston] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt