Wie geht es weiter?

1K 10 4
                                    

Verträumt schaute ich aus dem Fenster, während unser neuer Geschichtslehrer uns etwas über die französische Revolution erzählte. Es war ein regnerischer Herbsttag, die Zweige und Äste der Bäume wehten beachtlich im Wind und ließen den Großteil ihrer orange roten Blätter zu Boden fallen, wo sie durch den prasselnden Regen vermischt mit der nassen Erde zu Matsch wurden. Irgendwie mochte ich den Herbst aber dennoch. Natürlich am liebsten, wenn es nicht in Strömen goss und man durch die am Boden liegenden Blätter laufen konnte, sodass sie schön raschelten. Früher hatte ich in den ersten Oktobertagen immer mit Mom heruntergefallene Kastanien gesammelt. Oder sollte ich sagen, mit Grace? Im Prinzip würde sie immer meine Mutter bleiben, auch wenn der Stammbaum nun etwas anderes sagt... Sie war die Frau, die mich großgezogen hat, die mich immer unterstützt hat und auch nach der ganzen Sache noch hinter mir steht und mir den Rücken stärkt. Nein, Grace Shepherd war nicht meine Großtante, oder was auch immer sie theoretisch war. Sie war meine Mutter. Und Nick und Caroline blieben auch meine Geschwister. Ich konnte mich nie mit dem Gedanken anfreunden, dass meine kleine Schwester eigentlich meine Tante war. Das war einfach zu absurd. Tanten mussten so sein wie Tante Glenda, mürrisch und nichtsgönnerisch. Oder aber unglaublich verpeilt und zuckersüß besorgt wie Großtante Maddy, die dann ja eigentlich meine Urgroßtante wäre. Das alles war aber auch einfach verdammt kompliziert. Da stieg nicht einmal Leslie wirklich durch.
„Miss Shepherd?", unterbrach mich plötzlich eine Stimme in meinen konfusen Gedanken.
„Ähm, äh.. ja?", antwortete ich verwirrt.
Es war Mr Clark.
„Ich weiß, es ist wirklich schlechtes Wetter dort draußen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie dennoch zumindest mit Ihren halben Gedanken bei uns bleiben und mir meine Frage beantworten", sagte er mit einem ehrlichen Grinsen auf dem Gesicht.
Mr Clark war im Gegensatz zu Mr Whitman, oder besser dem Grafen von Saint Germain nicht nur unglaublich gutaussehend, sondern dazu noch tatsächlich total verständnisvoll und freundlich. Das war zusätzlich zu seinem äußeren Erscheinungsbild natürlich nur ein Grund mehr, dass Cynthia  natürlich wieder total verknallt in ihn war. Wenigstens kam sie so schnell über den Verlust des Eichhörnchens, ich meine Mr Whitman, oder eigentlich ja auch des Grafens oder wie auch immer, hinweg. Bloß hatte ich das dumpfe Gefühl, dass sie, falls es mit unseren Geschichtslehrern so weiter gehen sollte irgendwann noch ein ernstes „Ich-verliebe-mich-immer-nur-in-Autoritätspersonen-Problem" bekam.
„Ich ähm... könnten Sie die Frage vielleicht noch einmal wiederholen?", fragte ich noch immer unsicher, ob seine Freundlichkeit vielleicht doch nur gespielt war. Doch Mr Clark wiederholte verständnisvoll wie immer die Frage, auf die ich sogar eine Antwort wusste:
„Ich wollte nur von Ihnen wissen, welcher König zu dieser, oder besser vor dieser Zeit, in Frankreich regierte."
„Das war Ludiwg XVI. Und er ist aus seinem Schloss geflohen, das war glaube ich im Jahr 1791."
Wow, der Nachhilfeunterricht mit Gideon hatte sich echt ausgezahlt. Caroline warf mir einen überraschten, jedoch freundschaftlichen Blick zu. Wir verstanden uns viel besser, seit sie vor ein paar Wochen mit Gordon zusammengekommen war. Sie schien über Gideon hinweg zu sein und auch darüber, dass nicht sie, sondern ich das Zeitreise Gen geerbt hatte.
„Absolut richtig, Miss Shepherd. Schön zu sehen, dass Sie trotz ihrer Gedankenverlorenheit aufgepasst haben."
An das „Miss" konnte ich mich nur schwer gewöhnen. Er war der einzige Lehrer, der uns nicht beim Vornamen nannte. Wahrscheinlich war das noch einer der Aspekte, der Cynthia besonders gut gefiel. Diese Distanz, die dadurch entstand verstärkte anscheinend ihr Autoritätsgefühl.
Ich hatte ja jetzt zum Glück Gideon und brauchte nicht mehr zu versuchen, mich auf Zwang in einen Lehrer zu verlieben.
Und Gideon war auch der jenige, der mal wieder vor meiner Schule bei der Limosine wartete, um mich zum Elapsieren zu begleiten. Diesmal stand er nicht, wie sonst, lässig an der Autotür lehnend, sondern mit einem gelben Regenschirm da und sein Gesicht erhellte sich als er mich sah. Das Lächeln, welches sich auf seinem Gesicht ausbreitete, ließ mein Herz unmittelbar ein wenig schneller schlagen. Ich errötete, obwohl mir durch den auf mich prasselnden Regen eisig kalt war. Ich war noch immer verliebt in ihn, wie am ersten Tag. Ob dieses nervöse Kribbeln im Bauch, sobald ich ihn sah, jemals nachließ? Ich hoffte nicht.
Ich beschleunigte meinen Schritt, was nicht besonders viel brachte, da ich schon auf den kurzen zehn Metern vollkommen durchnässt war. Trotzdem kam auch Gideon auf mich zu und hielt mir, als Gentleman, der er nun mal ist, den Regenschirm über den Kopf, sodass er selber nass wurde. Ich stellte mich schnell näher zu ihm heran, damit wir beide unter dem Schirm Platz hatten und durch die plötzliche Nähe zu ihm wurde mir ganz heiß.
„Hi", sagte er grinsend.
„Hi", flüsterte ich zurück. Ich wischte mir die nassen Haare aus dem Gesicht und küsste ihn. Leidenschaftlich und lang.  Meine nassen Arme lagen auf seinen Schultern und er presste mich mit seiner freien Hand an meinem Rücken noch näher an sich, sodass seine Vorderseite nun auch nass wurde. Als wir nach einer gewissen Zeit fast keuchend nach Luft schnappen mussten ließen wir voneinander ab und er schaute mir tief in die Augen.
„Womit hab ich den denn verdient?", fragte er verschmitzt.
„Ich weiß nicht. Mir war danach", grinste ich. „Ich hab heute gute Laune."
„Das hast du ziemlich oft in letzter Zeit."
„Muss wohl an dir liegen", erklärte ich, woraufhin er ein breites Grinsen aufsetzte und mir einen erneuten flüchtigen Kuss auf den Mund drückte.
„Nun aber los, sonst kommen wir zu spät", erinnerte er mich und nahm meine Hand, als wir zurück zur Limosine gingen.
„Hallo Mr George!", begrüßte ich mein Lieblingsmitglied der Loge.
„Guten Tag, Gwendolyn. Ist ja ein ziemlich schlechtes Wetter heute, nicht wahr?"
„Oh, das können sie laut sagen", antwortete ich und merkte, wie kalt mir plötzlich war.
Als Gideon es bemerkte, rutschte er näher zu mir herüber und nahm mich in den Arm.
„Danke", flüsterte ich, als er mich versuchte durch Rubbeln meiner Arme und meines Rückens versuchte etwas aufzuwärmen.
„Ganz zu meinem Vergnügen, Miss Shepherd", grinste er und drückte mir einen Kuss auf mein nasses Haar.
Okay, vielleicht war dieses Ansprechen mit „Miss" doch nicht so unsexy, wie ich gedacht hatte.

BernsteingoldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt