Staffel 1 - 1 Lebe ich?

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Heute werde ich blaue Haare haben. Diese Perücke hatte ich lange nicht mehr. So lange, dass meine Mutter sich hoffentlich nicht daran erinnern kann. Ich will nicht, dass sie mich erkennt, schlägt, anschreit oder schlimmer: mir Drogen aufzwingt. Jeden Morgen wache ich mit der Angst auf sie könnte schon wach sein, mich sehen. Meine echten Haare rasiere ich mir ab, damit die Perücken besser sitzen, und weil es die gleichen sind
wie die meiner Mutter. Die gleiche Farbe, die gleiche Dicke. Die Perücke sieht niedlich aus. Sie ist glatt und hat Stirnfransen. Dazu ziehe ich mir ein hellblaues Kleid an, nachdem ich hinaus gesehen habe entscheide ich mich jedoch um für schwarze Jeans und einen Pulli mit dem Schullogo. Es schneit. Ich hasse Winter mehr als mein Leben. Früher mochte ich es noch. Früher mochte ich meine Mutter noch. Früher war mein Vater noch da. Früher hatte meine Mutter noch keine Drogenprobleme. Früher ging es meinem Bruder noch gut. Früher war vor einem Jahr.
Wir waren immer eine Art Vorzeigefamilie gewesen. Mit einem Vater der gut verdiente, einer Mutter die in einer Konditorei arbeitete und zwei Kinder aufzog während sie nebenbei Buchrezensionen schrieb. Eine Tochter mit vielen Freunden, welche Violine und Klavier spielte und Bestnoten schrieb. Und ein perfektes, süßes Kleinkind namens Louis-Gastón.
Dann starb mein Vater, wie genau wusste keiner. Meine Mutter wurde drogenabhängig und versank in ihrer Trauer. Sie gab immer größere Beträge aus, das Geld ging uns aus. Sie wurde entlassen und es kam kein Geld mehr ins Haus. Zuerst bemerkte ich nichts, sie tarnte ihre Unzuverlässigkeit zu gut. Eines Tages kam ich von der Schule nachhause und es war seltsam still. Normalerweise wurde ich sofort von Louis-Gastón überfallen und umarmt. An diesem Nachmittag war es nicht der Fall. Ich dachte mir nicht wirklich etwas dabei und als ich meine Mutter auf dem Sofa liegen sah, bestimmt schon seit drei Stunden fing ich an mir Sorgen zu machen. Was war mit Louis? Wo war er? Ich suchte ihn überall im Haus, fand ihn schließlich in unserem Gemeinsamen Zimmer. Auf dem Boden. Eindeutig nicht schlafend. Ich schrie auf. Das Bild würde mich noch ewig verfolgen. Ich hatte Schuldgefühle. Ich war nicht da gewesen. Ich wusste nicht wohin ich sollte, nur zu meinem besten Freund, einzigen echten Freund, Elliot. Ich lief durch die halbe Stadt, hoffte die ganze Zeit, dass er da sein würde. Ich klingelte und er machte auf. Er schien zu wissen was ich dachte. Er nahm mich in den Arm. Er war für mich da. Er flüsterte mir ins Ohr, er würde immer für mich da sein.
Er ging mit mir Perücken kaufen, schnitt mir die Haare- er wollte einmal Friseur werden, er konnte sowas echt gut. Ich zog für das nächste halbe Jahr zu ihm, erst danach traute ich mich wieder Nachhause. Meine Mutter hatte meine Abwesenheit nicht einmal wahrgenommen. Ich wusste nicht ob ich traurig oder erleichtert sein sollte. Ich war ein lebendes Chaos. Obwohl ich mir bei dem nicht sicher bin. Lebe ich?

Shut up everyoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt