9. Ängste

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SELIM

„It's not the fear of losing them that scares us, it's that we have given them so many of our pieces that we fear losing ourselves when they are gone."

„Selim? Ist alles gut?", Mevlüt stupste mich leicht an und versuchte mich aus meiner Trance zu befreien.

Seine Berührung schleuderte mich in die Realität zurück und ich steckte das Gespräch mit Mihriban in eine der Schubladen in meinem Hirn. Viel eher hatte ich aber daran gedacht, dass sie ihre Haare geschnitten hatte.  Schulterlang. Das tat sie nicht oft — vor allem ließ sie sie nie so sehr kürzen. Wenn mich mein Augenmaß nicht getäuscht hatte, waren es vermutlich 30 cm von denen sie sich getrennt hatte. In einem Gespräch hatte sie mir mal erzählt, dass sie ihre Haare nur dann schneiden würde, wenn wir uns trennen würden — und scheinbar war in ihren Augen genau das passiert. Aber ich wusste, dass sie mich noch immer liebte — man konnte seine Gefühle schließlich nicht mit einem Knopfdruck steuern — und deswegen gab ich die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr nicht auf.

„Ja, alles bestens", ich nickte meinem Kumpel zu und legte den Arm um seine Schulter, um ihn mit zum Elternhaus von Okan zu ziehen, wo wir Azads Geburtstag feiern würden. Ich musste das Kapitel abschließen — zumindest für heute — damit ich die Zeit mit meinen Jungs genießen konnte.
„Sehr gut, ihr habt euch schick gemacht, aber wo ist das Geschenk?", fragte Okan und scannte sowohl mich, als auch Mevo ab. „Hab's im Auto vergessen", stellte ich fest und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Deine armen Gehirnzellen", schmerzerfüllt blickte Mevlüt zu mir, brach aber im nächsten Moment in schallendes Gelächter, als Okan gegen mich schoss. „Welche Gehirnzellen?", grinste er provokant und ich bewegte mich kopfschüttelnd zu meinem Wagen. „Das frage ich mich auch immer wieder. Hätte ich welche, wäre ich vermutlich nicht mit dir befreundet", grinste ich, nachdem ich wieder zurücklief und warf ihm den eingepackten Schuhkarton zu.

„Danke Jungs, das wäre wirklich nicht nötig gewesen", Azad umarmte uns nacheinander, nachdem wir ihm seine Geschenke übergeben hatten — wir hatten ihm gemeinsames Nike iDs gekauft, wobei ihm jeder nochmal separat eine Kleinigkeiten geschenkt hatte.
„Ich habe noch etwas im Namen der Ünal Familie", gab Okan von sich und griff nach einem Briefumschlag, das im Bücherregal lag. „Ich hoffe du hast in den Ferien nichts vor", grinste er und hielt Azad den Umschlag hin. Dieser zog die Augenbrauen kritisch zusammen und schüttelte mit dem Kopf. „Das kann ich nicht annehmen Okan, ein Flugticket ist zu teuer", Azad trat demonstrativ einen Schritt zurück. „Anne!", rief Okan nach seiner Mutter, die lachend aus der Küche trat. „Er will unser Geschenk nicht annehmen", schmollte er und brachte seine Mutter dazu, sich zu Azad zu bewegen. „İyi ki doğdun, oğlum. İnatçılık yapma da al hadi (Alles gute zum Geburtstag, mein Sohn. Sei nicht stur und nehm ihm dein Geschenk ab)", sie legte ihn eine Hand auf die Schulter. Die Augen unseres besten Freundes fingen an zu strahlen — es war echt faszinierend, wie gut ihm die mütterliche Liebe von Hülya Teyze tat — und er nickte ergeben.
„Wo fliegt ihr hin?", Gençer blickte über Azads Schulter auf die Tickets und im selben Moment verzog er das Gesicht. „Die schließen uns aus, nur weil sie die gleiche Heimatstadt haben", stellte er fest und verschränkte die Arme beleidigt vor der Brust.

„Ihr seid in den Ferien also in Sivas?", Mevlüt blickte in die Gesichter unserer Freunde und eine leichte Enttäuschung war kaum zu überhören. „Gönnt doch", Okans Gesicht wurde von einem Grinsen geziert. „Nein! Wieso nehmt ihr uns nicht mit?", rief Gençer verzweifelt. „Du bist gerade außen vor, Aysema würde es ohnehin nicht erlauben, dass du einen Männerurlaub machst", Mevlüt schlug ihm gegen den Hinterkopf. „Man denkt wir machen einen Partyurlaub", diesmal schlug Gençer Mevlüt auf den Hinterkopf und leise lachte ich über das Szenario, das sich abspielte. „Wie auch immer, was ist mit Selim und mir? Nur ihr seid Brüder und wir sind wie immer die ungewollten Anhängseln", ergänzte Mevlüt seinen Satz und kassierte einen Schlag von Okan. „Was er sagt! Wenn ihr nicht meine Brüder wärt, würde ich euch nicht meiner ganzen Familie vorstellen — euch meine Mutter und Schwestern anvertrauen", unbewusst sorgte er mit dieser Aussage dafür, dass ich unter meinem schlechten Gewissen litt.

Mein Leben für DeinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt