10. Seelenanker

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MIHRIBAN

„Life's roughest storms prove the strength of our anchors."

„Hajdar", ich seufzte laut auf und ließ meinen Kopf auf den Tisch sinken. „Mihriban", er seufzte auch und machte mir somit nach, grinste darauf kurz, ehe er aufstand und sich streckte.

Seit gestern waren die Semsterferien vorbei und es gab nichts, was ich mir mehr wünschte, als eine weitere Woche, in der ich mich ausruhen konnte. Der Streit von Azad Abi und Zümra Abla kurz vor den Ferien, die darauffolgenden Probleme von ihm mit Mevlüt Abi, das Treffen meines Bruders mit Verâ Abla und die Hochzeit von Gençer Abi und Aysema Abla hatten dafür gesorgt, dass uns jegliche Kraft entwichen war und wir uns nicht erholen konnten. Natürlich war da noch die erste Klausurphase des Studiums, die Hajdar und mir auch nochmal gezeigt hatte, dass das Studieren kein Zuckerschlecken war — wie waren wir auch darauf gekommen Immobilientechnik und Immobilienwirtschaft zu studieren? Wieso hatte uns kein Studiengang mit einer einzigen Richtung gereicht?

„Ich fühle mich so ausgelaugt, können wir nicht wieder zurück in de Schule?", flüsterte ich und spürte, wie mich meine Kräfte verließen. „Schön wär's. Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein, dann kannst du wieder Kraft tanken", mein bester Freund streifte sich lachend die schwarze Lederjacke über und schulterte seinen Rucksack. Kraftlos erhob ich mich von dem Klappstuhl des Hörsaals griff nach meiner Tasche und Jacke und lief die ersten Schritte Richtung Tür. „Was soll das werden?", hörte ich Hajdars Stimme und blickte fragend zu ihm. „Was soll was werden?", meine Augenbrauen zogen sich zusammen und ich versuchte ihn zu verstehen. „Es ist noch nicht warm genug um ohne Jacke rumzulaufen, kannst du dir also bitte deine anziehen? Mach mich nicht verrückt, Zemer", er griff nach meiner Handtasche und blickte mich auffordernd an. Ergeben nickte ich und zog meine schwarze Jeansjacke an. Beim Überreichen meiner Tasche steiften sich unsere Hände und sofort fing Hajdar an zu lachen. „Leben Gjynah. Stehen morgens auf, leben Gjynah. Leben Gjynah. Gehen abends schlafen, leben Gjynah", sang er die Hook von Azets Track und brachte mich zum Lachen. „Tu nicht so als wärst du so pingelig, wenn es um gjnah (Sünde) geht, du Albo", lachte ich und schulterte meine Tasche. „Was soll das jetzt heißen?", er legte sich theatralisch die Hand aufs Herz und versuchte so zu verdeutlichen, dass er verletzt war. „Nichts", ich grinste ihn frech an, streckte ihm die Zunge heraus und trat aus der Tür, während er mir dicht auf den Fersen war.

„Wie war eigentlich die Hochzeit? Gab's ne Attraktion?", Hajdar grinste breit und steuerte die Treppen zu. „Die Hochzeit war halt eine Standardhochzeit, aber am Ende, boah, ich war kurz davor dieser hässlichen Leyla den Kopf abzureißen", als ich mich an das Szenario erinnerte, spürte ich wie mich die Wut erneut packte. „Was hat dich davon abgehalten?", fragte er und blickte mich kritisch an. „Selim", ich konnte ein breites Grinsen nicht verhindern, sodass ich schüchtern den Kopf senkte, ihn aber sofort wieder erhob, um Hajdars Reaktion zu sehen. „Vor der ganzen Truppe?", er riss überrascht die Augen auf. „Ja, er war derjenige, der mir am nächsten stand und ich war so außer mir, dass man mich festhalten musste. Dann hat er nach meinem Arm gegriffen und gemeint, dass sie es nicht wert ist", ich zuckte mit den Achseln aber behielt mein Grinsen bei. „Wie sie versucht es so beiläufig wie möglich zu erzählen. Sag doch gleich, dass du ihm um den Hals gefallen wärst, wenn die anderen nicht da wären — es ist schließlich keine Kleinigkeit ihm nach einem knappen halben Jahr wieder so nahe zu sein", er neckte mich, aber der Gedanke an den Moment, an Selims Berührung war so schön, dass es mich nicht interessierte. Es war erschreckend, dass tatsächlich ein halbes Jahr vergangen war, seit unserem letzten Treffen und somit unserem Abschied am Neckar."
„Ich finde es immer so niedlich, wie du von ihm erzählst", flüsterte Hajdar mit einem Hauch von Sehnsucht, sodass ich meinen Kopf gegen seinen Arm lehnte. Diese kleine Berührung sorgte dafür, dass er lächelte und mir die Tür aufmachte, sodass ich in die Kälte treten konnte.

Mein Leben für DeinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt