Illusion

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In was für einer futuristischen, aber gleichzeitig auch altmodischen Zeit leben wir? Während unsere Taten zukunftsorientiert sind, ist unser Denken stets veraltet. Wieso?

Man betrachte, was wir bereits geschafft haben. Wir fliegen hoch über den Wolken, wir tauchen tief im Meer. Wir ersticken an der Luft und atmen unter Wasser. Was ist nur passiert? Unsere Autos sind in der Lage alleine zu fahren - automatisiert. Unsere Maschinen können nun einen Menschen ersetzen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Industrie. Wir sind in der Lage, alles zu erreichen. Wir können eine künstliche Intelligenz programmieren. Wir haben den Hang zum Unmöglichen, aber was ist schon unmöglich?

Man betrachte, was wir noch nicht geschafft haben. Menschen werden von Menschen unterschieden. Wir denken, dass wir alle verschieden sind. Andere "Rassen". Wie Hunde. Klassifiziert man Hunde? Sind manche Hunde ausgegrenzt, weil sie eine andere Farbe haben? Die Antwort ist uns bewusst. Warum hassen wir andere Nationen?

Man kann sagen, dass unsere Logik überwiegt. Dass unsere Empathie irgendwo unter dem Grundwasser zu finden ist, aber wer bin ich schon? Wieso nehme ich mir das Recht heraus sowas zu sagen? 

Mein Name ist Jean. Ich bin 25 Jahre alt und komme aus Koksijde in Belgien. Wo meine Familie ist, weiß ich nicht. Ich habe nur noch eine dunkle Erinnerung an sie. Das soll aber jetzt nicht unser Thema sein. Es gibt wichtigeres! Wie zum Beispiel meine Gabe. Diese Gabe. Ich spüre es, wenn Unheil bevorsteht. Ich habe Visionen. Es ist, als würde mein Körper sich von innenheraus komplett mit schwarzem Rauch füllen, welcher sich langsam aber sicher durch meine Organe frisst, bis er mich einnimmt und ich zum Schatten meiner Selbst werde. Erst das Rauschen des Meers, wie seine Wellen in kompletter Vollendung ausschlagen, wie Peitschen, die angetrieben vom Wind sind und bis ins leere Nichts vortreten, um abzuflachen und Ruhe auszustrahlen. Dann werden diese Wellen immer spitzer und spitzer, bis sie zu guter Letzt so hoch sind, dass sie einem Tsunami ähneln. Sie bauen sich immer weiter auf. Das einst helle blau mischt sich mit dem dunklen Himmel, welcher davor die gleiche Farbe wie das Meer besaß. Ein so dunkles blau, dass es scheint, als würde jene Welle die ganze Welt in seinem Wirbel verschlucken und mit Schaum bedecken. Irgendwann prescht die Tsunami Welle hervor, sie stürzt auf mich ein und grausame Bilder entpuppen sich vor meinen Augen. Menschen sterben, Kinder werden von ihren Eltern getrennt. Eltern sterben. Kinder sterben. So real. Dann ist Ruhe. Schwarz.

Ich fragte mich oft in der Vergangenheit, ob es eintreffen wird. All das Grausame. Illusion. Bin ich verrückt? Nein. Einiges von dem, was ich oft sah, passierte. Irgendwann begriff ich, warum ich das sehe: Ich soll sie retten. Vor dem Leid. Vor dem grausamen, grausamen Leid. Ich zweifele, schaffe ich das wirklich alleine? Gibt es Menschen, die die gleiche Gabe haben? Wieso sehe ich das Meer?

Ich liege auf meinem zusammengebastelten Bett. Stabil ist es nicht, ich muss immer aufpassen, dass ich mich nicht falsch bewege. Ich stehe auf und strecke mich. Ich gehe zu meinem Fenster. Ich sehe die Kirche gegenüber. Sie ist riesig, ihre Türme ragen so hoch in den Himmel, als würden sie die Türme aller Hochhäuser der Welt verspotten wollen. Es ist, als würde die Turmspitze die Wolken kitzeln, wenn sie darüber hinweg gleiten, als würde jene tödliche Spitze sie nicht einmal berühren. Ich ziehe an der Gardine. Ich will den Himmel nicht sehen. Heute ist er so blass wie mein Gesicht. Mein Kopf pocht und ich weiß nicht, was ich mit dem Tag anfangen soll. Vorsichtig setze ich mich wieder auf mein Bett. Ich lege die Hände in den Schoß und lassen meinen Kopf langsam hineinsinken. Es beginnt langsam, aber schnell. Schmerzhaft aber schmerzlos. Undefinierbar. Dann erblicke ich die Wellen. So bedrohlich und doch so ruhig. Sie bauen sich auf. Färben sich dunkel. So wie mein Inneres. Ich sehe es. Eltern freuen sich über ihr Kind. Ein zerfetzter Mann, dem sein Arm abgerissen wurde, kratzt den Vater, beißt der Mutter in die Hand und nimmt das Kind an sich. Sie schreien, doch sind wie gelähmt. Was ist da nur passiert? Die zweite Vision. Ein kleiner Junge hat sich versteckt in einer Mülltonne, die in einem vorstädtischen Vorgarten steht. Es ist die Hölle los. Ein Mann mit verätztem Gesicht öffnet sie vorsichtig. Man kein an manchen Stellen das innere Muskelgewebe sehen. Am Kiefer besonders gut. Eine Sehne schaut heraus. Ein anderer Mann mit Kratzspuren im Gesicht schlägt dem entstellten Mann den Kopf ein. Er nimmt den Jungen aus der Tonne. Ich weiß nicht, ob er ihn rettet. Ich will es gar nicht wissen. Vielleicht würde mich die Antwort erschrecken. Doch was ist das? Habe ich das richtig gesehen? Mein Kopf tut weh. Halbblind renne ich aus meiner Wohnung. Auf die Straße. Was hatte ich da grade noch gesehen? Bin das wirklich ich gewesen? Rette ich den Jungen? Ich renne. Und renne. Dann wird es kurz hell. Dann wieder dunkel.

Ich öffne die Augen. Ich liege am Strand. Am Strand von Koksijde. Es ist Sommer. Es ist voll. Ich setze mich langsam auf und da ist eine Frau, die mich fragend anschaut: ,,Bonjour! Est-ce que tu vas bien?", fragt sie. Ich spreche zwar Französich, aber es ist auch nicht das beste. Ich hasse es mit Menschen zu reden, aber eigentlich auch nicht. Ich bin ein komischer Mensch. Ich schaue ihr in ihre tiefblauen Augen. Sie sehen so unreal aus und doch so natürlich. Sie haben etwas selbstverständliches, was man einfach nicht in Worte fassen kann. Ich beschließe zu antworten. Immerhin fragte sie mich ja grade, wie es mir geht. ,,Es geht mir gut, danke". Sie versteht mich. Meine Muttersprache ist Flämisch. Anscheind hört sie meinen Akzent raus und beginnt mit mir auf Flämisch zu sprechen. Ihre Stimme ist so lieblich, wie die eines Vogels, der sich an einem schönen Frühlingstag über die wärmende Sonne freut. Ihr Haar ist braun. Ihre klitzekleinen Sommersprossen auf der Nase habe ich direkt entdeckt. Sie schmeicheln ihrem Gesicht. Natürliche rote Lippen. Alles in ihrem Gesicht scheint so harmonisch. Dezente Sorgenfalten schweben auf der Stirn. Sie ist perfekt. ,,Was war los?", fragt sie mich. ,,Nichts, ich war nur kurz in Gedanken.". Es sieht aus, als würde sie wissen, dass ich sie anlüge. Es steht ihr wie ins Gesicht geschrieben! ,,Wie heißt du?", fragt sie mich mit sanfter Stimme. ,,J-Jean.", antworte ich zittrig, ,,Und du?". ,,Mya." Mya. So heißt sie also. ,,Komm, ich werde dir was zu trinken schenken.", drängt sie. Widerwillig willige ich ein und wir gehen in den nächsten Laden. Sie geht vor und in einem vorübergehenden Windstoß fliegt mir ihr Duft in die Nase, welcher sich dort festzusetzen vermag. Sie riecht nach wunderschönen Lilien und frischem Waschmittel. Ich folge ihr. Sie zieht mich so in ihren Bann, dass mein Gehirn so viele Endorphine ausstößt, dass ich vor Glück schreien und Hüpfen mag. Was ist bloß los mit mir? Ich finde sie so toll, es ist, als wäre ich noch nie so glücklich gewesen. War es Schicksal, dass ich ihr direkt vor die Füße gefallen bin? Bin ich das überhaupt? ,,Jean?" Mya schaut mich fragend an. Ich war anscheinend so in Gedanken, dass ich nicht bemerkt habe, dass sie mit mir gesprochen hat. ,,Ja?", antworte ich. ,,Ich weiß, was mit dir passiert ist. Ich weiß wie es aussieht, wenn man Visionen hat.".

Die letzte Chance - Rettung aus der ApokalypseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt