Kapitel 6

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Den restlichen Tag verbringe ich auf dem Baum liegend, von dem ich Jack letztens gerettet habe, und das Rudel beobachtend. Wie wild wuseln sie umher und lassen sich von mir nicht stören. Wobei ich bezweifle, dass die meisten mich überhaupt wahrnehmen. Nur Ruby und Rhys schauen ab und an mal zu mir, wahrscheinlich um sich zu vergewissern, dass ich keinen Unsinn anstelle. Und dann gibt es noch abweisende graugrüne Augen, die beinahe jede meiner Bewegungen beobachten.

Gegen Nachmittag wird mir aber schließlich auch das Beobachten zu langweilig, immerhin bieten Wölfe nicht besonders viel Abwechslung. Daher lasse ich mich spontan zwischen Rhys und Ruby vom Baum fallen, während Beide in eine angeregte Diskussion vertieft sind. Und erschrecke sie damit halb zu Tode. "Du bist ganz schön langweilig, Rhys.", mische ich mich in die Diskussion ein und muss mir ein breites Grinsen verkneifen, denn sein finsterer Blick ist einfach zu niedlich. "Ich bin nur der Meinung, dass eine Party gerade nicht die beste Idee ist." 

"Ich finde, dass es eine sehr gute Idee ist. Feiern und tanzen bringt die Leute zueinander und fördert die Bindung und Bildung von Beziehungen.", gebe ich ernst von mir und versuche jegliche Ironie aus meiner Stimme zu verbannen. Doch Rhys sieht mich trotzdem skeptisch an, bis Ruby ihn ablenkt. "Da siehst du es! Wenn sogar Philia dafür ist! Und nach allem was sie für uns getan hat, sollte sie mit eingeladen sein!"

Absichtlich seufze ich laut. "Das geht leider nicht. Ich muss doch auf die Kinder aufpassen!" Nun sehe ich Rhys an, dass auch er von meiner Uneigennützigkeit überzeugt ist, während Ruby ein hinterlistiges Funkeln in den Augen hat. Ihr scheint es auch großen Spaß zu machen ihren Bruder zu verarschen. "Das ist kein Problem! Unsere Eltern haben sich bereit erklärt auf Ben und Jack aufzupassen. Auch du hast mal einen freien Abend verdient." Nun nickt Rhys sogar zustimmend und ich kann ein Zucken meiner Mundwinkel nicht mehr verhindern.

Als Ruby das sieht muss sie auch grinsen und wir brechen schließlich in lautes Gelächter aus. Rhys scheint verwirrt zu sein, doch Rafael, welcher in unmittelbarer Entfernung steht, hat ein amüsiertes Funkeln in den Augen. Er ist also tatsächlich nicht vollkommen abgestumpft und gefühllos. Doch als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, kehrt er sofort wieder zu seiner abweisenden Maske zurück. Nur um sich gleich darauf abzuwenden und in den Wald zu laufen. Was war denn jetzt?

Neugierig folge ich ihm, ohne auf die irritierten Blicke der Zwillinge zu achten. Darum schleiche ich einfach weiter und kann beobachten, wie Rafael unweit des Dorfes immer wieder gegen einen Baum schlägt. Erstmal lasse ich ihn machen, doch als ich den Geruch von Blut wahrnehme und die roten Knöchelabdrücke im Baum erkenne, beschließe ich einzugreifen. Die Wunden sind zwar schnell verheilt, aber ich sehe keinen Grund, warum er sich das überhaupt antut.

Leise schleiche ich mich daher von hinten an, packe seine Handgelenke, drehe sie ihm auf den Rücken und drücke ihn so auf den Boden. Rafael ist so überrumpelt das es mir ein leichtes ist ihn erst am Boden zu fixieren, indem ich mich einfach auf ihn setze, bevor er anfängt sich zu wehren.

Ein wütendes Knurren ist die Folge und ich muss alle Kraft anwenden, um ihn im Griff zu behalten. Eins muss ich ihm lassen, stark ist er. Aber nicht hinterhältig genug um es mit mir aufzunehmen. Schließlich kommt Rafael langsam wieder zur Ruhe. Doch ich mache nicht den Fehler und lockere den Griff. Darauf wartet er sicherlich nur.

Stattdessen mache ich mich auf seinem Rücken einfach noch schwerer, indem ich mich nach vorne beuge, um näher an sein Ohr zu kommen. "Hast du dich schon wieder beruhigt?", flüstere ich ihm neckisch zu, was ein erneutes Aufbäumen seinerseits zur Folge hat. Aber damit habe ich gerechnet. "Das wird so nichts, Rafael. Also sag schon, wo ist das Problem?"

"Wenn du mich nicht auf der Stelle loslässt, dann hast du ein Problem!", höre ich ihn zwischen zusammen gebissenen Zähnen sagen, was ich jedoch einfach nicht ernst nehmen kann. "Weißt du, wie viele Leute das schon zu mir gesagt haben, ohne das daraus Konsequenzen entstanden sind? Viel zu viele.", gebe ich lachend zurück und beantworte meine Frage einfach selbst. War sowieso nur rhetorisch gemeint.

"Was willst du?", gibt Rafael nun wütend von sich, als er nach einem weiteren Versuch wieder daran scheitert sich zu befreien. "Ich will wissen, warum du dich genötigt fühlst dir selbst weh zu tun." "Lässt du mich dafür los?" Rafael klingt zwar ergeben, doch ich traue der plötzlichen Einwilligung nicht.

Daher lasse ich ihn noch einen Moment zappeln. "Wenn du mich verarschst, sei gewarnt, dass ich mich rächen werde. Und zwar nicht auf die nette Art und Weise.", gebe ich drohend zurück, drücke Rafaels Handgelenke noch einmal fester zusammen, ehe ich aufspringe und mich auf den nächsten Ast befördere. Vorsicht ist immerhin besser als Nachsicht.

Doch meine Sorge war offenbar unbegründet. Langsam rappelt sich Rafael wieder auf und lehnt sich mit dem Rücken an den Stamm, auf den er vor einigen Minuten noch eingeprügelt hat. Ohne mich anzusehen beginnt er zu erzählen, den Blick in die Ferne gerichtet, ich etwa einen Meter über ihm auf einem Ast liegend.

"Am Anfang war es eigentlich ganz in Ordnung dort. Ich war froh von Clarissa weg zu sein und auch von dem Rudel, dass mir ja quasi in den Rücken gefallen ist. Doch nach einigen Wochen, wahrscheinlich als klar war das ich nicht mehr zurück gehen werde, fingen sie mit ihren sogenannten Erziehungsmethoden an." Automatisch verzieht sich Rafaels Gesicht dabei zu einer Grimasse, als er daran zurück denkt.

"Wie alt warst du damals?", frage ich leise nach und bekomme direkt wieder Wut auf Clarissa und das Rudel. "Es war kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag, als ich dort hin gewechselt bin." Finster sehe ich ebenfalls nach vorne und halte den Mund. Alles was ich jetzt sage wird nur in einer Schimpftirade enden. Und Rafael ist noch nicht fertig mit erzählen.

"Am Anfang waren es nur Zurechtweisungen. Doch schnell wurde es schlimmer bis hin zu Schlägen und Essensentzug. Jede Gefühlsregung wurde bestraft, bis man gelernt hat alles zu unterdrücken. Sie wollten einen stumpfen Roboter aus mir machen." Wieder wütend schlägt er auf den Boden, was mich glücklicher macht als ich sein sollte. Rafael ist immer noch ein Wolf und die kann ich eigentlich nicht leiden. Doch seine Brüder sind mir inzwischen schon so ans Herz gewachsen, dass ich die Gefühle dafür wahrscheinlich einfach auf ihn übertragen habe.

"Wieso wollte Clarissa dich eigentlich so dringend loswerden?", frage ich schließlich nach einigen Minuten der Stille und sehe direkt in graugrüne Augen, als Rafael zu mir aufsieht. "Sie wollte mir zeigen, wie man Frauen glücklich macht. Und ich habe mich geweigert." Diese Antwort bringt er so nüchtern hervor, als hätte er schon mehrfach überlegt, ob das nicht die angenehmere Lösung gewesen wäre.

Doch eigentlich sollte diese Frage überhaupt nicht aufkommen. Er hätte sollen in Frieden aufwachsen und irgendwann ein Mädchen kennen lernen, mit dem er seine Sexualität selbst entdecken kann. Und nicht von einer notgeilen Schlampe dazu gezwungen werden. "Wenn ich diese Hure noch einmal sehe reiße ich sie in Stücke und lasse sie ihre eigenen Innereien essen! Dieses Monster sollte nicht auf die Welt losgelassen sein! Dieses notgeile, dumme, verbitterte, alte Flittchen von einer dämlichen, schwanzlutschenden Furie!", rege ich mich auf, lasse mich vom Baum fallen und will gerade ebenfalls gegen den Stamm schlagen, als eine warme Hand auf meiner Schulter mich in der Bewegung inne halten lässt.

Überrascht sehe ich Rafael an, welcher mich verwirrt mustert. "Warum regst du dich über etwas auf, woran du überhaupt nicht Schuld bist?" "Ich hasse Ungerechtigkeit. Und was ist deine Ausrede dafür, dass du dich selbst bestrafst, wenn deine Gefühle nach außen dringen?" "Konditionierung." Guter Einwand. Doch auch die beste Konditionierung kann durchbrochen werden.

"Wenn ich in der Nähe bin wird das nicht lange halten.", gebe ich herausfordernd zurück und drehe mich um, sodass wir uns direkt gegenüber stehen. "Ich habe auch nicht vor daran festzuhalten, jetzt wo ich wieder in Freiheit bin.", gibt er leise zurück und beugt sich näher zu mir. Doch bevor noch irgendetwas passieren kann, reißt uns laute Musik auseinander. Offenbar beginnt die Party jetzt.

"Lass uns zurück gehen, ein bisschen Spaß haben und feiern. Du musst nämlich unbedingt anfangen lockerer zu werden.", fordere ich ihn grinsend heraus, weshalb er jedoch gleich wieder sein Pokerface aufsetzt. Aber wahrscheinlich nur um mich zu ärgern.

Lachend packe ich Rafael am Handgelenk und ziehe ihn hinter mir her. Die Gefühle und die Energie gerade zwischen uns waren nämlich viel zu interessant, als das ich sie ignorieren kann. Ich will wissen was das zu bedeuten hat und wohin es führt. Sonst wäre das Leben ja auch langweilig, wenn man nichts riskiert.

Daher halte ich nicht mal an, als ich die tanzende Menge aus Wölfen sehe, sondern ziehe Rafael einfach mit. Jetzt kann der Spaß ja beginnen!

Allein Unter WölfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt