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Das Wasser ruht wie erstarrt unter uns. Das östliche und westliche Ufer liegen

schlafend an den Seiten. Die Sonne geht gerade auf und es weht ein kühler Wind. Aber es macht mir nichts aus. Milton hält meine Hand und steht so nah neben mir dass ich seinen Herzschlag warnehmen kann. Meine andere Hand liegt auf dem rostigen Geländer vor uns. Milton streicht mir verträumt eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ich lächele ihn an. Mein Herz schlägt hell und froh und ich frage mich was eigentlich mit mir los ist. Unsere Liebe aus der Zeit vor meinem Unfall muss geblieben sein. Dieser Gedanke gefällt mir. "Du Jola", fragt er leise."Ja?" "Meinst du wir können da weiter machen wo wir vor Monaten aufgehört haben?" Ohne genau über seine Worte nachzudenken, nicke ich. Er legt seine Hände auf meine Schultern und nähert sich langsam meinem Gesicht. Er will mich küssen.  Mir wird heiß und dann wieder kalt. Das Blut schießt mir in den Kopf und mein Herz schlägt schneller als je zuvor. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Miltons Gesicht ist jetzt ganz nah an meinem. Seine Lippen berühren meine. Ein Kribbeln geht durch meinen gesamten Körper. Alles in mir spielt verrückt. Mein Magen fährt Achterbahn und ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen. Langsam lockert Milton seine Hände und rückt ein Stück von mir ab. "Jola...was ist?" Mir wird schwindelig. Ich kann ihn nur noch verschwommen sehen. Ich wollte nicht dass du mich küsst.  Ich schwanke und einen Moment wird mir schwarz vor Augen.Milton und die Brücke vor mir verschwinden. Es wird wieder schwarz um mich herum. Ich versuche mich aus der Dunkelheit zu befreien und öffne die Augen. Ich bin im Wald. Ich renne. Renne um mein Leben. Gleich haben sie mich. "Haut ab! Lasst mich in Ruhe!", schreie ich panisch. "Milton! Hilf mir doch!" Er lacht höhnisch. Ein grausames, hinterhältiges Lachen. Es bricht mein Herz. Bricht meine Seele. "Hilf mir!", flehe ich wieder, aber er grinst nur. "Du hättest mir nicht dein Herz geben sollen Jola!" Was sagt er da nur? Warum, warum verdammt nochmal hilft er mir nicht? Gleich haben sie mich. Der Wald ist schon bald im Nebel verschwunden. Ich höre ihre Schritte hinter mir und immer noch vereinzelt Miltons schreckliches Lachen. Ich schreie. Renne immer tiefer in den Nebel bis er mich verschluckt. Ich sehe nichts mehr, doch ich kann nicht aufhören zu rennen. "Helft mir doch", brülle ich mit schwacher Stimme. Ich stolpere und falle über irgendetwas. Mit voller Wucht schlage ich auf den harten Boden. Irgendetwas bohrt sich in meinen Arm. Es schmerzt. Mein Gesicht ist tränenüberströmt. Ich fühle mich hilflos. Verdammt hilflos. Ich falle. Ein endloser Fall. Fang mich. Ich schlage wie wild um mich, aber ich kann mich nirgendwo festhalten. Ich falle in ein endloses, dunkles Grau. Immer tiefer. Irgendwann packt etwas meine Hand. Ich lasse es zu. Es zieht mich. Wieder wird mir schwindelig. Halt mich fest. Für einen Moment wird alles schwarz. Ich schlage die Augen auf- und schreie.

Herbstnebel-Meine ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt